Anni und Alois - Arm sind wir nicht: Ein Bauernleben (German Edition)
»Wenn ich wüsste, dass morgen der Jüngste Tag ist, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen«, der ist der Anni wie auf den Leib geschnitten. Die vielen Sortennamen hat sie sorgfältig auf Aluminiumblättchen geschrieben, die sie mit einem Draht an den Bäumen befestigt. Obwohl eines davon 30 Cent kostet, leistet sich Anni den Luxus der unverwüstlichen Schildchen, um sich zu orientieren. Über hundert hat sie heuer beschriftet und ihre Apfelbäumchen schauen damit lustig aus, wie Weihnachtsbäume, die mit zu dick geratenem Lametta behängt sind. Und wenn der Wind geht, dann tanzen diese Blättchen mit ihren vielen Namen einen Walzer der Apfelsorten oder eine Polka von Annis Apfelleidenschaft.
Die vielen Schilder braucht es auch, um beim Veredeln den Überblick zu behalten. Veredeln ist wichtig. Ohne diese Technik müsste die Anni unzählig viele Bäume in ihren Garten pflanzen, um ähnlich viele Obstsorten zu züchten. Und ohne das Veredeln wäre die Bestäubung auch viel schlechter. Vor allem bestäuben sich, wenn die Bienen zu wenig fliegen, veredelte Bäume durch den Wind gegenseitig und der Ertrag ist besser.
Annis Liebling ist ein großer Apfelbaum, der mitten im Garten steht und im Herbst 14 verschiedene Sorten tragen wird – das Meisterwerk einer »Veredelungskünstlerin«. »›Eisapfel‹, ›Gerlinde‹, ›Glockenapfel‹, ›Ravenna‹«, rattert die Anni ihre Sorten herunter, während sie bei diesem Apfelbaum steht, der über und über mit Blüten übersät ist. Für einen Unkundigen klingen diese Namen nur wie ein Sammelsurium von nichtssagenden Wörtern, für Anni aber sind diese Sortenbezeichnungen ihr ganzer Stolz, ihre Welt, in der sie täglich lebt. »›M9‹, ›M16‹, ›Gisela-5‹«, rattert sie weiter, jetzt ist sie bei den verschiedenen Unterlagen angelangt, auf denen sie ihre Edelreiser aufpfropft.
Zwischen den vielen Blüten steht die Anni, wieder mal ohne Schuhe, mit nackten Armen und einer dunkel blau gemusterten Schürze. Auf der Nase sitzt ihre dicke Omabrille, die sie je nach Bedarf nah an die Augen schiebt oder etwas auf die Nase rutschen lässt, um über die Gläser schauen zu können. In der Hand hat sie ihr geliebtes Teppichmesser – ihre Allzweckwaffe fürs Veredeln, um Hühnern den Kopf abzusäbeln oder einen reifen Apfel auseinanderzuschneiden.
Stolz führt sie ihre Kunst vor, souverän setzt sie einen Schnitt in die Rinde eines Zweiges. Auch den dünnen Edelreiser schneidet sie an und legt dann die beiden offenen Stellen aufeinander, schließt die Rinde wieder über dem eingefügten Reiser und verbindet die frische Veredelungsstelle mit einem speziellen Plastik. Auf keinen Fall dürfen Keime oder Bakterien bei dem Vorgang dorthin gelangen, sonst wächst der Reiser nicht an.
Wenn die Anni veredelt, dann ist das eine Erfolgsgarantie: Bei ihr treibt nach 14 Tagen jede behandelte Stelle wieder aus. Und deshalb züchtet sie auch für Leute, die sie kennt, kleine Buschbäume, an denen sie mehrere Sorten aufgepfropft hat. Ein Jahr lang lässt sie die Bäumchen am Rande ihres Gemüsebeetes stehen, bis sie von ihren »Kunden« ausgegraben und abgeholt werden.
»Mich hat das immer interessiert, der Garten und die Tiere«, erzählt die Anni und blickt von ihrem Obstgarten aus über ihr Reich. »Sonst hätte ich als junge Frau gleich in München bleiben können, wo ich damals angestellt war.« Doch in der Großstadt hat die Anni sich eingesperrt gefühlt; in der Einöde oder in der »Einschicht« – wie sie es nennt –, da ist sie zwar mit dem Alois allein, aber sie kann tun und lassen, was sie will. »Da hast du den richtigen Platz erwischt«, nickt der Alois, denn er weiß, dass sie ohne ihre Hennen, ihre Pflanzen und Blumen nicht glücklich wäre.
Den Gartenplan in der linken Schürzentasche, die Veredelungsutensilien in der rechten, steht die Anni vor dem Haus, ihrer Heimat in den letzten fünfzig Jahren. Und auch wenn sie heute ein überzeugtes Landei ist, denkt sie gern an ihre Zeit in München zurück, an ihre Erlebnisse als junge Frau, an das Abenteuer »Großstadt«. Dann setzt sie sich auf die hölzerne Bank bei den Gemüsebeeten und erzählt:
Im Bayerischen Wald gab es in den 50er-Jahren für junge Leute überhaupt keine Möglichkeit zu arbeiten. Es war kein Geld da, keine Arbeitsplätze, rein gar nichts. Der Bayerische Wald war damals das »Armenhaus Bayerns«. Fast alle aus meiner Klasse mussten in Städte wie München, Augsburg, Würzburg oder sogar
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