Anni und Alois - Arm sind wir nicht: Ein Bauernleben (German Edition)
Mitternacht bei ihr bleiben müssen, bis die Eltern von der Oper oder den Konzerten da waren. Mein kleines Zimmer hatte ich in Oberwiesenfeld, das waren noch zwanzig Minuten Fußmarsch im Dunkeln und am nächsten Tag hab’ ich in der Früh um halb sieben wieder da sein müssen, um das Mädchen für die Schule fertig zu machen.
Das letzte Jahr in München habe ich noch in der Geisenhofer-Klinik in Schwabing gearbeitet. Da habe ich sogar einen Schwesternhelferinnenkurs gemacht. Aber Erholung war das keine. Meistens war ich im Keller, wo sie die Sterbenden in kleine Zimmer geschoben haben. Da haben sie dann mich hingesetzt. Sie hatten Angst, ich hatte keine – das haben die gemerkt. Nacht für Nacht bin ich dagesessen, da habe ich einiges gesehen. Aber ich war das von daheim gewohnt: Schon als Kind bin ich mit meiner Tante, einer Leichenfrau, mitgegangen. Der musste ich helfen, die Verstorbenen schön anzuziehen. Angst habe ich schon damals keine gehabt.
Mit 25 Jahren bin ich dann wieder zurück in den Bayerischen Wald. 1961 habe ich den Alois geheiratet. Der kannte sich auch in München aus, der hat dort im Winter auf Großbaustellen gearbeitet als Akkordmaurer. Aber, ob es ihm gefallen hat, das weiß ich nicht.
»Mich hat das schon interessiert, wie ich da gearbeitet habe«, wirft der Alois nach Annis langem Monolog ein. »Da bin ich oft rummarschiert in München«, schiebt er noch leise nach. Beide sitzen jetzt auf der hölzernen Hausbank, mit Blick auf die Bergkette des Bayerischen Waldes. Der Alois hat sich in Ruhe eine Zigarette angezündet und lehnt mit dem Oberkörper entspannt an der Bank, die Beine übereinandergeschlagen. Der Wind treibt den Zigarettenrauch direkt zur Anni rüber, die dagegen aber schon abgehärtet ist. Sie rümpft nur etwas die Nase und sagt abfällig: »Den ganzen Tag der Verkehr, das Gerattere, der Benzingestank«, das war die »Großstadt« auch für die Anni. Da blickt sie lieber auf Hunderte von weißen und rosa Blüten in ihrem Garten, denen der Wind schon die ersten Blütenblätter auszupft und die er durch den Garten treibt. Eine weiße Welle des Frühlings, die durch die Bäume wogt.
»Ja«, meint der Alois, nachdem er lange nachgedacht hat: »Es kann sein, dass es keine so gesunde Luft nicht ist wie bei uns. Die Abgase – so rein kann die Luft in der Stadt nicht sein.« Da nimmt er lieber noch einmal einen tiefen Zug, inhaliert ihn und sagt leise vor sich hin: »So wie wir es hier haben, ist es richtig. Aus. Amen.«
Die Wetterbeobachterin
» S o, jetzt pritschelt es schon wieder«, seufzt Alois, während er an seiner Zigarette zieht und lange aus dem Fenster schaut. Der ganze Mai war bis jetzt regnerisch, kühl und unangenehm. So kalt, dass der einzige Ofen in der Stube heute angeheizt werden muss. Heute, am 18. Mai, ist es sogar dermaßen frisch, dass selbst die Anni gern Hausschuhe anzieht, allerdings haben die an den großen Zehen riesige Löcher: »Da kann wenigstens vorne die Luft raus«, sagt sie mit einem spitzbübischen Lächeln und setzt sich an den Tisch, während der Alois seinen Stammplatz auf dem Sofa wieder eingenommen hat. Beide können heute im Garten nichts arbeiten, selbst die Hennen wollen lieber im Stall bleiben. »Hergehen tut es wie im Winter«, sagt die Anni und blättert nachdenklich in den Wetteraufzeichnungen, die vor ihr liegen. Elf große Jahres kalender hat sie inzwischen mit ihren Beobachtungen gefüllt. Denn jeden Tag, gleich nach dem Aufstehen, zieht es die Wetterprophetin zu ihrem Thermometer am Gartenzaun – und abends vor dem Schlafengehen wiederholt sie die Prozedur. In die Kalender, die sie jedes Jahr vor Weihnachten im Supermarkt geschenkt bekommt, trägt sie dann die jeweilige Temperatur und Witterung des Tages sorgfältig ein.
Erst am Sonntag, wenn sie viel Zeit hat, setzt sie sich dann hin und vergleicht eine ganze Woche Wetterbeobachtungen mit den vorhergehenden Jahren. »18. Mai 2007«, fängt sie an vorzulesen, mit ihrer dicken Brille auf der Nase, »war es heiter und 18 Grad und 2008 waren 14 Grad und es hat geregnet. Heuer ist es am kältesten am 18. Mai«, resümiert die Anni. Und der Alois nickt vom Sofa anerkennend: »Wie du das so aufschreibst, alle Tage.« Über den Mai 2010 hat der Kalender wenig Gutes zu berichten. Wie eine Litanei betet die Anni das Wetter von damals herunter: »Regen, Regen, Ostwind, Regen, Ostwind, Regen, ein Tag heiter, bedeckt, Ostwind, Regen, bedeckt, wieder Regen«, so hat sie es aufgeschrieben.
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