Anni und Alois - Arm sind wir nicht: Ein Bauernleben (German Edition)
großen Obstgarten malt die Anni sich alle paar Jahre einen neuen Plan – ein riesiges unhandliches Papier, mehrfach zusammengeklebt, das fast einen Meter breit und einen Meter hoch ist. Nur mit Kugelschreiber und ohne Lineal hat sie dort fein säuberlich alle Obstsorten eingetragen, die sie angepflanzt oder veredelt hat. »Langsam kann ich mir einfach alles selber nicht mehr merken«, rechtfertigt die Anni die papierene Gedächtnisstütze. Und noch einen Grund gibt es für diesen Plan, einen nicht ganz unwichtigen: »Den habe ich auch für die Nachwelt gemacht, denn wenn ich nicht mehr bin, weiß ja niemand mehr, was hier im Garten steht.« Wie jeder Sammler weiß die Anni um den Wert und die Besonderheit ihrer Schätze und möchte sie für kommende Generationen aufbewahren.
Ab und zu, wenn wieder Schaulustige in ihrem Garten sind, zieht die Anni den neuesten Plan lässig aus der Schürzentasche. Sie faltet ihn auseinander – was oft nicht einfach ist, weil im Garten immer ein ziemliches Lüftchen weht – und beginnt wie eine Professorin der Obstkunde mit einem Vortrag über ihren Park und ihre Welt des Apfelbaus.
Ihr Zeigefinger rutscht dabei langsam über den großen Plan, der etwas krumm und schief gezeichnet ist, denn so genau, so pedantisch ist die Anni auch wieder nicht. Ob »Opal«, »Florina«, »Luna«, »Topaz«, »Gravensteiner« oder »Pillnitzer Stein« – über jede Sorte weiß die Anni etwas zu erzählen: wie sie blüht, ab wann man die Früchte essen kann und wie sie schmecken. »Mich interessieren einfach die Äpfel«, erklärt die Anni ihre Leidenschaft, »wie sie ausschauen, wie lange sie halten, einfach alles. Und alles, was es an neuen Apfelsorten gibt, das muss ich gleich haben. Und dann muss ich austesten, ob die das auch in unserem harten Klima aushalten.«
Vielleicht haben es die Äpfel der Anni ja deshalb angetan, weil sie die so gern isst. Sechs Stück täglich sind für sie normal, der Alois dagegen mag höchstens drei pro Woche. Und für ihre Hennen braucht die Anni la gerfähige Äpfel – mindestens ein- bis eineinhalb Zentner, die sie im Winter in das Futter ihrer Zöglinge mischt.
Langsam wandert die barfüßige Apfelspezialistin jetzt den kleinen Hang hinunter zu ihren »Neulingen«. Einer davon ist die Sorte »Pillnitzer Stein«, über die sie sich besonders amüsieren kann. »Der ist so hart, mit dem kann man am Hausdach Ziegel einwerfen«, lacht sie, während sie neben dem Bäumchen steht, das solche Granaten hervorbringt. Geerntet wird dieser Winterapfel im Herbst, aber er ist erst ab Februar genießbar. Dafür kann man ihn dann bis Juni lagern – fast bis zur nächsten Apfelernte. Eine dankbare Sorte.
Weniger überzeugend ist da die alte Apfelsorte »Jakob Fischer«, die aus dem ehemaligen Königreich Württemberg stammt. Der kleinwüchsige Bauer und Schuhmacher Jakob Fischer entdeckte um die Jahrhundertwende ein besonderes Apfelbäumchen im benachbarten Wald und pflanzte es in seinen Garten. So gelang ihm die Zucht einer neuen Sorte, die seit 1912 von allen Obst- und Gartenbauvereinen anerkannt wird – allerdings nicht von der Anni. »Der wird ja schon am Baum oben faulig«, zeigt sie empört auf ihr klägliches kleines »Jakob Fischer«-Bäumchen, das jetzt zwar zartrosa Blüten hat, sie im Herbst aber wieder mit leicht verderblichen Früchten quälen wird. »Heuer, wenn die Äpfel wieder nichts werden, dann wird er geköpft, dann kommt er weg.« Da kennt die Anni nichts.
Und weil sie ein durch und durch wissbegieriger Mensch ist, kennt die Anni Pomologen, Apfelexperten, aus ganz Nieder- und Oberbayern, mit denen sie fachkundige Gespräche führen kann. Sie hat zwar wenig Schulbildung genießen dürfen, aber auf ihren Gebieten macht ihr keiner was vor. Und wer sonst kauft sich bei der kleinen Rente schon zu Weihnachten ein fast 100 Euro teures Buch über Obstsorten, das Kultbuch des berühmten Apfelpfarrers Korbinian Aigner? Das tut nur die Anni. Korbinian Aigner übrigens war eine charismatische Figur im bayerischen Obstbau und ein vehementer Gegner des Naziregimes. Sogar als dieser bereits im KZ Dachau inhaftiert war, pflanzte er noch Apfelbäume zwischen den Baracken; ihm gelangen dort neue Züchtungen wie die Äpfel »KZ-1«, »KZ-2«, »KZ-3« und »KZ-4«. Später, in den 80er-Jahren, wurde die Züchtung »KZ-3« ihm zu Ehren »Korbiniansapfel« benannt.
Natürlich wächst auch dieser goldgelbe Apfel in Annis Garten. Der berühmte Spruch von Martin Luther:
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