Annie und der sinnliche Italiener
sind doch ganz zuversichtlich, dass Oliver morgen früh schon das Krankenhaus verlassen kann, oder?“, sagte er mit unverfänglicher Freundlichkeit.
„Du kannst es offenbar gar nicht mehr abwarten, ihn mir wegzunehmen, was?“, platzte Annie völlig unvermittelt heraus und trat wie schützend ans Krankenbett.
Nachdenklich betrachtete Luc die Mutter seines Sohnes. Sicher hatte sie keine Ahnung, wie unglaublich stark und verletzlich zugleich sie in diesem Augenblick wirkte. Wie eine wunderschöne Tigerin, die bereit war, mit Zähnen und Klauen um ihr Junges zu kämpfen.
Als sie sich am Gardasee per Zufall wiederbegegnet waren und Luc erfahren hatte, dass sie Anna Balfour war, eine von Oscar Balfours skandalträchtigen Töchtern, hatte er sich zu voreiligen Rückschlüssen bezüglich ihres Charakters hinreißen lassen. Und sämtliche Fähigkeiten als Mutter hatte er ihr erst recht abgesprochen, sobald er von der Existenz ihres gemeinsamen Sohnes gewusst hatte.
Annies angsterfüllte, angespannte Gemütslage während des Rückfluges und ihre desolate Verfassung und zugleich ungeheuer tapfere Haltung heute Nachmittag an Olivers Krankenbett bewiesen ihm, wie falsch er mit seiner Einschätzung gelegen hatte. Ihre Liebe zu ihrem Sohn war absolut, uneingeschränkt und unantastbar. Eine starke, beschützende Liebe, die Luc lieber in der Hölle schmoren sähe, als ihm zu erlauben, ihr den Sohn wegzunehmen.
„Mummy?“
Lucs Blick flog zum Krankenbett. Zum ersten Mal rührte sich sein Sohn und öffnete dann zögernd die Augen, die in dem gleichen intensiven Blau leuchteten wie die seiner Mutter, zu der er jetzt vertrauensvoll aufschaute.
„Hallo, Darling“, murmelte Annie weich und strich eine vorwitzige dunkle Locke auf der Stirn ihres Sohnes zur Seite. „Wie fühlst du dich?“
Oliver schnitt eine komische, kleine Grimasse. „Mein Kopf tut weh.“
„Soll ich die Schwester bitten, dir etwas zu geben, damit es besser wird?“
„Ja, bitte, Mummy“, flüsterte der Knirps mit einem zaghaften Lächeln.
Oliver glich so sehr seinen eigenen Kinderfotos, dass Luc einen Stich im Herzen spürte, während er Annie und seinen Sohn beobachtete. Die gleichen dunklen Locken und Brauen. Der gleiche Gesichtsschnitt.
Nur die Augen hatte er von Annie.
Annies klare blaue Augen nahmen erneut einen wachsamen Ausdruck an, als sie sich Luc zuwandte. „Möchtest du dich zu Oliver setzen, während ich nach der Krankenschwester suche?“, fragte sie leise.
„Natürlich … sehr gern“, erwiderte er heiser.
Liebevoll drückte Annie Olivers Hand und trat einen Schritt zur Seite, um ihm freie Sicht auf den fremden Besucher zu geben. „Oliver, das ist Luc. Er … er ist ein Freund von mir.“
Neugierige blaue Augen trafen auf schwarze. „Hallo“, murmelte der Knirps schüchtern.
Ein dicker Kloß in Lucs Hals hinderte ihn daran, seinem Sohn gleich etwas zu antworten. Schon das Atmen fiel ihm schwer.
„Luc?“, fragte Annie mit gerunzelter Stirn. Was war nur mit ihm los? Warum antwortete er nicht? Ob er beleidigt war, weil sie ihn nur als einen Freund vorgestellt hatte? Er erwartete doch wohl nicht, dass sie Oliver hier im Krankenhaus, dazu noch mitten in der Nacht, nebenbei gestand, dass es sich bei dem Fremden an seinem Bett um seinen Vater handelte? Dafür würde noch genügend Zeit und Gelegenheit sein, wenn Oliver erst wieder in seiner gewohnten Umgebung war.
„Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen, Oliver“, sagte Luc rau, nachdem er sich einen Ruck gegeben hatte und an das Bett des kleinen Patienten getreten war. Seine Stimme und sein Lächeln waren warm und aufmunternd, als er seinem Sohn die Hand entgegenstreckte.
„Warst du mit Mummy in Italien?“, fragte der Junge neugierig.
Während sie gespannt auf Lucs Antwort wartete, hielt Annie den Atem an.
„Ich lebe in Italien“, erklärte Luc diplomatisch.
Olivers Augen wurden ganz groß. „Wirklich? Immer?“
Luc nickte. „Ich bin nämlich Italiener, musst du wissen. Mein voller Name ist Luca de Salvatore.“
Und du bist mein Sohn…
Annie konnte die unausgesprochenen Worte am Ende des Satzes fast hören. „Ich bin in wenigen Minuten zurück“, versicherte sie hastig und flüchtete förmlich aus dem Raum.
Der warnende Unterton in ihrer Stimme war Luc keineswegs entgangen. Als ob Annie befürchtete, er würde hier und jetzt sein väterliches Anrecht auf Oliver geltend machen! Stattdessen bemühte er sich erneut um ein freundlich unverbindliches Lächeln,
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