Annika Bengtzon 09: Weißer Tod
wie es sich anfühlt, wenn man eine unfassbare Botschaft erhält. Sie hatte die Nachrichten und »Echt antik?!« geguckt, ohne zu begreifen, worüber gesprochen wurde.
Im Schlafzimmer telefonierte Halenius auf Englisch, sie wusste nicht mit wem.
Sie könnte sich einfach immer weiter fallen lassen. Sie könnte hier auf dem Sofa sitzen bleiben und bis in den Keller hinunter und immer tiefer durch die Stollen sinken, vorbei an U-Bahn- und Abwasserschächten.
Stockholms Untergrund war durchlöchert wie ein Schweizer Käse, von Gängen und Tunneln und Rohren durchzogen. Eine wie sie, die kein Orientierungsvermögen hatte, konnte dort unten bis in alle Ewigkeit umherwandern, hoffnungslos zwischen Schächten und rostigen Elektroleitungen verloren.
Sie holte tief Luft, erhob sich und ging ins Kinderzimmer. Mit der Hand strich sie über Spielsachen und Bettzeug, sie hob Kalles Schlafanzug vom Boden auf. Die Überreste ihrer Schrankaufräumarbeiten lagen in Haufen an der Wand. Sie blieb mitten im Raum stehen, vollkommen gefangen von der Präsenz der Kinder an den Wänden und im Bettzeug. Sie spürte ihren Puls bis in den Magen.
Das Gefühl blieb und blieb und blieb.
Ein Mensch war nicht seine Behinderung. Nicht ihre linke Hand oder ihre Beine oder ihre Augen machten sie aus. Eine Behinderung war ein Umstand, eine Bedingung, keine Eigenschaft.
»Annika? Kannst du kommen?«
Sie ließ die Schlafanzughose auf den Boden fallen und ging zu Halenius ins Schlafzimmer. Er hatte sein Handy zur Seite gelegt, einen Kopfhörer aufgesetzt und gab etwas in den Computer ein.
»Ich habe gehört, wie du den Namen der Deutschen gesagt hast«, sagte sie und setzte sich aufs Bett.
Er schloss die Audiodatei, nahm den Kopfhörer ab und wandte sich zu ihr um.
»Sie ist freigelassen worden«, sagte er. »An der Straßensperre, wo sie entführt wurden. Sie ist der Straße nach Liboi gefolgt, und kurz vor der Stadt hat eine Militärpatrouille sie aufgelesen.«
Annika vergrub die Hände unter den Oberschenkeln und suchte nach einem Gefühl: Erleichterung? Neid? Gleichgültigkeit? Sie fand keins.
»Ihr ist teilweise das Gleiche widerfahren wie der Engländerin. Die Wächter haben sie vergewaltigt und die übrigen Geiseln gezwungen, sie … Aber Thomas hat sich geweigert. Der Anführer schlug ihm dann mit einer Machete die linke Hand ab.«
»Heute Morgen wurde sie zu einem Auto gebracht und stundenlang durch die Gegend gefahren und dann an der Straßensperre rausgeworfen.«
»Wann ist es passiert?«
»Die Vergewaltigung? Gestern Morgen.«
Seit anderthalb Tagen hatte Thomas keine linke Hand mehr. Annika stand auf, ging ins Wohnzimmer und holte die Videokamera.
»Kannst du das bitte noch mal wiederholen?«
Halenius sah sie an. Sie hob die Kamera, fokussierte ihn auf dem ausklappbaren Display und hob den Daumen – er konnte anfangen.
»Ich heiße Jimmy Halenius«, sagte er und schaute in die Kamera, »ich sitze in Annika Bengtzons Schlafzimmer und versuche ihr dabei behilflich zu sein, ihren Mann nach Hause zu holen.«
»Ich meinte eigentlich die Sache mit der Deutschen«, sagte Annika.
»Ich habe mir häufig vorgestellt, hier in ihrem Schlafzimmer zu sein«, sagte er, »allerdings nicht unter solchen Umständen.«
Sie hielt die Kamera abwartend weiter fest.
Für einen Augenblick schaute er weg, aber dann war er wieder da, ihre Blicke begegneten sich auf dem Display.
»Helga Wolff ist heute Abend außerhalb von Liboi gefunden worden. Erschöpft und dehydriert, aber ohne weiteren körperlichen Schaden. Bislang ist noch nicht bekannt, ob ein Lösegeld für ihre Freilassung bezahlt wurde, aber es ist anzunehmen.«
»Du hörst dich an wie ein Holzbock«, sagte Annika und ließ die Kamera sinken.
Halenius schaltete seinen Computer aus.
»Ich gehe nach Hause und schlafe eine Runde«, sagte er.
Sie ließ die Videokamera neben sich aufs Bett fallen.
»Aber wenn sie nun anrufen?«
»Ich leite deinen Festnetzanschluss auf mein Handy um.«
Er stand auf und packte seine Sachen zusammen. Sie drehte sich um und ging ins Wohnzimmer, schaltete die Kamera aus und legte sie auf den Couchtisch.
»Hast du heute mit deinen Kindern gesprochen?«, fragte sie.
Er kam herein und zwängte sich in sein Sakko.
»Zwei Mal. Sie waren schwimmen, in der Campus Bay.«
»Was macht deine Freundin eigentlich?«
Er blieb vor ihr stehen.
»Tanya? Sie ist Analystin beim Institut für außenpolitische Studien. Warum?«
»Wohnt ihr
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