Annika Bengtzon 09: Weißer Tod
Hansemännern sprach. Dann kam er wieder herein, schloss die Tür und ging zurück ins Wohnzimmer.
»Die Kollegen vom Ministerium«, sagte er entschuldigend zu Schyman.
»Wie würden Sie denn den Fall beschreiben?«, fragte der Chefredakteur.
»Kommt ganz darauf an, mit was für einem Verbrechen wir es hier zu tun haben. Kommerzielle Entführungsfälle sind meistens einfacher zu lösen. Politische sind deutlich komplizierter und oft mit Gewalt verbunden.«
»Daniel Pearl«, sagte Schyman.
Annika verriegelte die Badezimmertür.
Sie hatte während ihrer Zeit in Amerika eine Zusammenfassung über den Fall Pearl geschrieben. Der Journalist Daniel Pearl war Chef der Südostasien-Niederlassung des Wall Street Journal gewesen, als er im Januar 2002 von al-Qaida gekidnappt wurde. Neun Tage später wurde er geköpft. Das Video schwirrte noch Jahre später im Internet herum, vielleicht war es noch immer irgendwo zu finden. Drei Minuten und sechsunddreißig Sekunden durch und durch widerwärtige Propaganda. Sie hatte sich dazu gezwungen, es anzuschauen. Daniel Pearl sprach in die Kamera, von der Hüfte aufwärts unbekleidet, und sein Gesicht war von in das Video kopierten Bildern toter Muslime umgeben. Nach einer Minute und fünfundfünfzig Sekunden kam ein Mann ins Bild und schnitt ihm die Kehle durch. In der letzten Minute des Videos lief eine Liste mit politischen Forderungen über das Bild des abgeschnittenen Journalistenkopfes. Irgendwer hielt ihn an den Haaren in die Höhe.
»Weibliche Geiseln werden häufig vergewaltigt«, hörte sie Halenius’ leise Stimme aus dem Wohnzimmer. »Männliche übrigens auch. In Mexiko schneidet man ihnen ein Ohr oder einen Finger ab und schickt das Körperteil an die Familie des Opfers. In der ehemaligen Sowjetunion riss man ihnen die Zähne aus …«
»Und in Ostafrika?«, fragte Schyman beinahe flüsternd.
Sie richtete sich auf und spitzte die Ohren. Halenius räusperte sich.
»Ich kenne die genaue Statistik nicht, aber die Sterberate ist hoch. Die Geiselnehmer sind gut bewaffnet, die Entführungsopfer werden auffallend häufig erschossen. Und Somalia ist ein Land, in dem Verstümmelung gesetzlich verankert ist. Traditionell werden den Mädchen die Genitalien verstümmelt …«
Sie drehte den Kaltwasserhahn am Waschbecken auf und ließ sich das Wasser über die Handgelenke laufen. Die Stimmen gingen im Plätschern unter. Am liebsten hätte sie geweint, aber sie war zu wütend.
Jetzt reichte es. Sie wollte nichts von verstümmelten Mädchen hören. Sie brauchte Hilfe, aber nicht um jeden Preis. Die Regierung durfte gerne ihre Hände in Unschuld waschen, aber sie weigerte sich, die Verantwortung für sämtliche Gewalt in der Welt auf sich zu nehmen. Sie hatte nicht vor, ihr Zuhause und ihr Schlafzimmer einem Haufen fremder Kerle zu überlassen.
Sie drehte den Wasserhahn wieder zu, trocknete sich die Hände ab, schloss die Tür auf und ging hinaus.
»Es hat doch den Anschein, als gäbe es in diesem Entführungsfall gegensätzliche Interessen, Geld und Politik«, sagte Schyman, als sie auf ihre Sofaecke zusteuerte.
Halenius zog die Beine an, um sie vorbeizulassen.
»Oder wir haben es mit einer Kombination von Interessen zu tun, die nicht unbedingt gegensätzlich sein müssen. Wenn man die politische Situation in Ostafrika bedenkt …«
Annika sank zwischen die Kissen und schaute hinaus in den Himmel, der durch die Kälte aussah wie Glas. Hoffentlich froren die Kinder draußen im Kronobergspark nicht. Annika hatte sich einmal Erfrierungen am Fuß zugezogen. An einem Wintertag draußen in Lyckebo, dem kleinen Gesindehaus auf dem Landsitz Harpsund, das ihre Oma gemietet hatte, als sie noch Hausdame in der Wochenendresidenz des Staatsministers war. Bis heute hatte Annika Probleme mit den Zehen an diesem Fuß, sie wurden beim kleinsten bisschen Kälte steif und blauweiß. Als Thomas das zum ersten Mal sah, hatte er sich so sehr erschreckt, dass er gleich einen Krankenwagen rufen wollte. Mit körperlichen Beschwerden konnte er ohnehin nie besonders gut umgehen. Im Moment würde er wohl kaum frieren. In Somalia war es sicher sehr heiß. Sie dachte an die verbrannte Erde auf dem Satellitenbild von Liboi …
»… geographischen und kulturellen Voraussetzungen«, sagte Halenius.
»Und die Kidnapper?«, fragte Schyman. »Was für Menschen sind das?«
»Diese Gruppen sind sich weltweit erstaunlich ähnlich«, sagte der Staatssekretär. »Meistens sind es nur
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