Annika Bengtzon 09: Weißer Tod
Kopfzerbrechen.
Gleich heute Morgen, als er zur Arbeit gekommen war, noch bevor er sich die Jacke ausgezogen hatte, klingelte sein Telefon: Es war die Mutter der ermordeten Lena. Die Frau war wütend, schockiert und aufgebracht. Sie weinte, aber sie war nicht hysterisch, sie sprach mit unsicherer Stimme, aber deutlich und in zusammenhängenden Sätzen.
»Das war kein Serienmörder«, sagte sie. »Das war Gustaf, der Faulpelz, mit dem sie zusammen war. Er hat sie verfolgt, seit sie Schluss gemacht hat, und das ist ja schon Monate her, seit Juli, seit Ende Juli.«
»Es ist also der Vater der beiden Mädchen, der …«
»Nein, nein. Nicht Oscar. Gustaf ist der Typ, den sie in der Praxis kennengelernt hat, er war arbeitsunfähig geschrieben, Probleme mit dem Rücken … Er hat nicht kapiert, als es reichte. Hat einfach nicht eingesehen, dass Schluss war. Was hätte Lena auch mit ihm anfangen sollen? Ein weiterer Kostenfaktor war er, sonst nichts …«
»Hat er sie geschlagen?«, fragte Schyman. Ein bisschen wusste schließlich auch er über Frauenhäuser.
»Das hätte er bloß wagen sollen«, sagte die Frau, »dann hätte Lena ihn gleich einbuchten lassen. Mit Lena legte man sich besser nicht an.«
»Hat sie den Mann bei der Polizei angezeigt?«
»Weshalb?«
»Haben Sie nicht gesagt, er hat sie verfolgt?«
Die Mutter schniefte.
»Sie hat das alles einfach abgetan und gesagt, dass er schon irgendwann aufhören würde, dass man sich nicht darum kümmern sollte. Und jetzt sehen Sie, was passiert ist!«
Die Frau weinte untröstlich. Schyman hörte zu. Verzweifelte Menschen rührten ihn nicht sonderlich. Vielleicht hatte sich seine Fähigkeit zur Empathie mit Betroffenen über die Jahre abgenutzt. Eine Berufskrankheit, weil er viel zu lange Leute ausgefragt, ausgebeutet und vorgeführt hatte.
»Wir tragen lediglich den Polizeiermittlungen Rechnung«, sagte er. »Natürlich wird in alle Richtungen ermittelt. Wenn dieser Mann schuldig ist …«
»Er heißt Gustaf.«
»… dann wird er vermutlich festgenommen und angeklagt, aber wenn es ein anderer war, wird eben diese Person verurteilt …«
Die Frau schnäuzte sich.
»Meinen Sie?«
»Die meisten Morde werden aufgeklärt«, sagte Schyman mit selbstsicherer Stimme und hoffte, dass er recht hatte. Und dann legten sie auf, aber das Unbehagen saß ihm nach wie vor in den Knochen.
Wenn nun diese Frauenmorde ganz gewöhnliche Dutzendstorys waren? Die Statistik ließ das definitiv vermuten. Das Opfer, die Waffe, die Vorgehensweise, das Motiv: Ein Mann kann nicht mehr über seine Frau verfügen, ersticht sie zu Hause oder in unmittelbarer Umgebung mit einem Brotmesser. Schyman brauchte nicht einmal Annika Bengtzons Moralkeule, um ins Zweifeln zu geraten.
Aus unerfindlichen Gründen sah er schon jetzt das Zitat von Stig-Björn Ljunggren vor sich, einem der namhafteren und diskussionsfreudigen Politikwissenschaftler: »Eine gängige Klage in der politischen Debatte gilt der Tatsache, dass die Medien die Realität verzerren. Diese endlose Litanei geht darauf zurück, dass die Medien als eine Art Spiegel der Gesellschaft fungieren sollen. Doch das ist eine falsche Voraussetzung. Die Medien sind ein Teil der Unterhaltungsindustrie und sollen eher für Zerstreuung als für Information sorgen … Ihre Aufgabe ist es nicht, die Wirklichkeit darzustellen, sondern sie zu dramatisieren …«
Anders Schyman sah auf die Uhr.
Wenn er sich jetzt auf den Weg machte, würde er gleichzeitig mit seiner Frau zu Hause sein, die heute aus dem Wellnessurlaub zurückkam.
*
Die Einfahrt war geräumt und der ganze Hof mit Sand gestreut. Annika parkte neben dem Landhaus, drehte den Zündschlüssel um und blieb noch ein paar Minuten im Wagen sitzen. Draußen auf dem zugefrorenen See, weit im Süden, konnte sie drei Punkte erkennen. Einen großen und zwei kleine. Sie hoffte, dass sie ein paar Flussbarsche gefangen hatten. Die würden sie dann gemeinsam in Butter braten und mit Knäckebrot essen. Die Fische waren unglaublich lecker, aber schrecklich zu entgräten. Annika ging hinüber zur Veranda und klopfte an. Eine Klingel gab es nicht.
Sie wandte sich um und schaute noch einmal auf den See hinaus.
Als ihre eigenen Kinder aus dem Haus waren, hatten Berit und Thord ihr Haus in Täby verkauft und sich den Hof zugelegt. Annika wusste, dass es noch einen weiteren Grund für diesen Neuanfang gab: Berit hatte eine Affäre mit Kommissar Q gehabt, und der Umzug schien die letzte
Weitere Kostenlose Bücher