Annika Bengtzon 09: Weißer Tod
Chance zu sein, ihre Ehe zu retten. Es hatte offensichtlich funktioniert.
Berit öffnete die Tür.
»Warum stehst du denn hier draußen? Wieso kommst du nicht einfach rein?«
Annika lächelte schwach.
»Weil ich zu verstädtert bin?«
»Sie sind noch draußen beim Angeln. Ihre werdet die ganze Woche Barsch essen. Kaffee?«
»Ja, gerne«, sagte Annika und betrat die große Landhausküche, die wie aus Schöner Wohnen oder Haus und Garten entlehnt wirkte. Breite Bodendielen aus gelaugter Fichte, Holzfeuerherd, Wandpanele, ein ausklappbarer Esstisch, eine Mora-Standuhr, ein Ilve-Gasherd und ein Kühlschrank mit Eiswürfelmaschine.
Annika ließ sich am Tisch nieder und sah Berit an der Kaffeemaschine zu.
Die trug die gleichen Kleider wie bei der Arbeit, schwarze Hose, Bluse und darüber eine Strickjacke. Sie bewegte sich ruhig und zurückhaltend, natürlich und besonnen, immer bescheiden.
»Du verstellst dich nie«, sagte Annika. »Du bist immer … authentisch.«
Berit sah sie verwundert innehaltend an, den Kaffeelöffel in der Luft.
»Ach, doch«, sagte sie. »Manchmal tue ich schon so als ob. Allerdings im Moment nicht so oft bei der Arbeit. Das habe ich hinter mir.«
Sie befüllte die Maschine, dann drückte sie auf einen Knopf und setzte sich mit zwei Löffeln und sauberen Bechern an den Tisch.
Annika fingerte an den Zeitungen herum, die auf dem Tisch lagen – es waren die aktuellen Ausgaben des Abendblatts und des Konkurrenten sowie die beiden großen Morgenzeitungen mit den dicken Sonntagsbeilagen –, brachte es aber nicht fertig, in eine davon hineinzuschauen.
»Wir haben ein Video bekommen«, sagte sie tonlos. » Proof of life . Er sah grauenhaft aus.«
Sie schloss die Augen und sah sein Gesicht wieder vor sich. Das zugeschwollene Auge, dieser vollkommen verstörte Blick und sein verschwitztes Haar. Plötzlich begannen ihre Finger zu zittern, und sie spürte Panik in sich aufsteigen. Wenn Europas Führer nicht hören, sterbe ich. Er stirbt, er stirbt, er stirbt, und ich kann nichts tun.
»O Gott«, sagte sie. »O Gott …«
Berit kam um den Tisch herum, zog sich einen Stuhl heran und nahm sie in den Arm, ganz fest.
»Es geht vorbei«, sagte Berit. »Der Tag kommt, an dem es vorüber ist. Du wirst es überstehen.«
Annika zwang sich, normal zu atmen, damit ihr Blut nicht übersäuerte. Sie wollte dieses Stechen in den Händen und im Kopf nicht, ebenso wenig den Schwindel und das Herzrasen.
»Es ist so schrecklich«, flüsterte sie. »Ich bin so schrecklich machtlos.«
Berit hielt ihr ein Stück Küchenpapier hin, und Annika schnäuzte sich geräuschvoll.
»Ich kann es mir vielleicht vorstellen«, sagte Berit, »aber nicht nachfühlen.«
Annika presste die Knöchel gegen die Augen.
»Ich gehe kaputt«, sagte sie. »Ich werde nie wieder dieselbe sein. Selbst wenn ich es schaffe, mich zusammenzureißen, werde ich nie wieder dieselbe sein.«
Berit stand auf und ging hinüber zur Kaffeemaschine.
»Weißt du was«, sagte sie, »in Cardiff im Nationalmuseum von Wales steht ein japanischer Teller, der absichtlich zerbrochen und wieder zusammengesetzt worden ist. Die alten japanischen Teemeister haben häufig wertvolles Porzellan zerschlagen, weil sie der Ansicht waren, es würde schöner, wenn es repariert war.«
Sie goss Kaffee in die Becher und nahm gegenüber von Annika Platz.
»Ich wünschte wirklich, dir wäre diese Erfahrung erspart geblieben, aber sie wird dich nicht umbringen.«
Annika wärmte ihre Finger am Kaffeebecher.
»Aber vielleicht bringt sie Thomas um.«
»Vielleicht«, sagte Berit.
»Er ist freiwillig mitgefahren«, sagte Annika. »Er ist aus freien Stücken mit nach Liboi gefahren.«
Sie schaute aus dem Fenster. Von hier aus hatte sie keinen Blick auf den See.
»Der Grund heißt Catherine. Engländerin.«
Sie hatte Fotos von ihr im Internet gesehen. Blond, schlank, zierlich. Wie Eleonor und Sophia Dumme Schlampe Grenborg. Genau sein Typ und das krasse Gegenteil von ihr.
Sie sah wieder zu Berit hinüber.
»Ich weiß, dass es weitergeht. Ich weiß …«
Berit deutete ein Lächeln an. Annika rührte mit dem Löffel im Kaffee.
»Eigentlich wollten wir umziehen. Aber jetzt ist die Versicherungssumme weg. Ist vielleicht auch besser so. Es war ja wirklich nicht mein Geld, sondern Ragnwalds …«
Als Annika den Roten Wolf entlarvte, hatte sie in einem Stromhäuschen in der Nähe von Luleå einen Sack voll Geld gefunden. Der Finderlohn in Höhe von zehn
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