Anonym - Briefe der Lust
Menge anderer Büroliebschaften, die ich schon beobachtet hatte. Aber da lag sie nun, die Wahrheit, zwischen uns auf den Tisch geknallt wie ein Fehdehandschuh. Sie waren ein Liebespaar, und Vivians Abneigung mir gegenüber hatte nichts mit so einfachen Dingen wie meiner Kleidung oder meiner Ausbildung zu tun. Es ging einzig und allein um meine blonden Haare und meine blauen Augen und die Größe meines Busens und um meinen Hintern. Sie dachte, ich könnte sie ausstechen.
„Ich habe nicht gesehen, dass die Jobs am Schwarzen Brett ausgeschrieben waren“, bemerkte ich und unterdrückte den Drang, spontan in Gelächter auszubrechen.
Vivian sah ihren riesigen Becher an, widerstand aber der Versuchung, daraus zu trinken. „Die Jobs werden nicht ausgeschrieben, bevor wir mit sämtlichen Leuten ein Einstellungsgespräch hatten, die wir für geeignet halten. Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie eine Bewerbung um die Position in Erwägung ziehen würden.“
Ich wusste nicht viel über Personalpolitik oder über die Vorschriften, die man einhalten musste, um sich vollkommen korrekt zu verhalten, aber das klang irgendwie merkwürdig. Dennoch nickte ich, als würde ich es völlig normal finden. Paul lächelte und ließ seinen Blick zwischen uns hin- und herwandern.
Ich konnte ihn nicht ansehen. Nicht weil ich herausgefunden hatte, dass Vivian glaubte, er und ich könnten etwas miteinander haben, sondern weil ich überzeugt war, dass sie etwas miteinander hatten. Und es ging nicht um meine Moralvorstellungen, sondern um die Tatsache, dass ich einfach nicht glauben konnte, was für einen schlechten Geschmack er hatte.
„Darf ich fragen, warum Ihre Vorauswahl auf mich gefallen ist? Abgesehen von Pauls Empfehlung.“ Ich wusste, dass es ihr einen Stich versetzt haben musste, als ich ihn anlächelte, doch das war mir egal. „Ich habe keine Ausbildung im Marketing. Mein Wirtschaftsdiplom habe ich am Harrisburg Community College gemacht.“
„Wir planen, unseren neuen Leuten in gewissen Bereichen eine praktische Fortbildung anzubieten.“
Ich hatte genug Zeit mit Menschen verbracht, die Schweigen nicht ertragen konnten, um zu wissen, wie mächtig es ist. Ich nickte, anstatt etwas zu sagen, und murmelte noch nicht einmal irgendetwas, das als Zustimmung hätte gewertet werden können. Vivian sah Paul an, aber er und ich waren uns längst einig, dass man nicht ständig reden musste, und geübt darin, uns wortlos zu verständigen.
Sie räusperte sich, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und schließlich trank sie doch aus ihrem Becher. „Paul hat Sie so sehr gelobt, Paige, und Ihre Ausbildung ist sehr hilfreich. Es ist eine große Chance, die sich Ihnen bietet.“
„Können Sie mir erklären, warum?“
Sie öffnete den Mund, doch anstatt mir sofort zu antworten, trank sie erst noch etwas. Als sie den Becher zurück auf Pauls Schreibtisch stellte, war er sehr viel leerer als vorher. Wieder schaute sie ihn mit zusammengezogenen Brauen an. Ganz offensichtlich irritierte es sie sehr, dass ich nicht vor Freude auf und ab sprang, weil ich mein trauriges Leben als Sekretärin hinter mir lassen und in die wunderschöne, strahlende Welt einer Junior-was-auch-immer eintreten durfte.
„Sie bekommen ein festes Gehalt und werden nicht mehr nach Arbeitsstunden bezahlt“, erklärte sie. „Und natürlich tragen Sie mehr Verantwortung.“
Ich sah immer noch Paul an. „Ich trage eine Menge Verantwortung.“
Wir lachten alle drei, obwohl sie nicht besonders amüsiert zu sein schien. Wieder trank sie etwas, und als sie ihren Becher dieses Mal abstellte, klapperte er unmissverständlich, wie ein leeres Gefäß nun einmal klappert. Die energische Bewegung, mit der sie ihn wegschob, wirkte endgültig.
„Das wäre im neuen Job etwas anderes“, behauptete sie matt.
Die Männer, die ich gekannt hatte, waren in der Mehrzahl eher unsensibel als absichtlich grausam gewesen und eher begriffsstutzig als unaufmerksam. Paul war feinfühliger als die meisten, und nun wandte er sich ihr mit einem Lächeln zu, das langsam verblasste. Ich fragte mich, ob er gerade eben erst begriffen hatte, was die wahren Gründe waren, weshalb sie mich aus seinem Büro heraus haben wollte.
Das Schweigen hielt so lange an, dass es ganz offiziell als schrecklich bezeichnet werden konnte. Dann stand Vivian auf. „Entschuldigen Sie mich einen Augenblick.“
Ich war überrascht, dass sie so lange durchgehalten hatte. Meine Nieren wären längst
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