Anonym - Briefe der Lust
auf.
26. KAPITEL
Die Blumen kamen am nächsten Tag, ein Strauß aus dreizehn roten Rosen mit Schleierkraut, gehalten von einem breiten Seidenband. Sie wurden schon früh am Morgen geliefert, und eine Karte in meinem Briefkasten, die ebenso zwischen den Rechnungen steckte wie vor nicht allzu langer Zeit die anonymen Nachrichten, teilte mir mit, dass am Empfangspult eine Sendung auf mich wartete. Die Karte ließ mein Herz schneller schlagen, so wie es jene Nachrichten auch immer getan hatten, aber beim Anblick der Blumen sank mein Herz bis in meine Kniekehlen.
„Da hat jemand einen ganz speziellen Freund“, bemerkte Alice, als sie mir mit einem wissenden Lächeln den Strauß überreichte. Sie lehnte sich über den Tresen. „Ich wusste, dass es bei Ihnen nicht lange dauern würde, meine Liebe.“
Mit den Blumen in der Hand blieb ich stehen und achtete darauf, sie nicht zu fest zu halten, für den Fall, dass sie Dornen hatten. „Was würde nicht lange dauern?“
„Einen zu finden“, erklärte Alice. „Einen Mann.“
Kein Wort herauszubringen ist etwas anderes, als keine Worte zu finden. Ich hasse es, nicht zu wissen, was ich sagen soll. Ich glotzte sie an wie eine Idiotin und nahm die Blumen doch noch ganz fest in die Hand. Mein Blick ließ sie zurückweichen, und ihr Lächeln verblasste.
„Hübsche Blumen.“ Das war die Frau von den Briefkästen, die kam, um ihr eigenes Päckchen abzuholen. „Von Ihrem Freund?“
„Ich habe keinen Freund“, erklärte ich knapp, damit sie und Alice Ruhe gaben. „Ich weiß nicht, wer mir die geschickt hat.“
Falls sie beredte Blicke tauschten, geschah das hinter meinem Rücken, denn ich hatte mich abgewandt, um die Karte zwischen den Stielen hervorzuziehen. Es war eine gedruckte Karte, keine handgeschriebene.
Es tut mir leid. Eric
Austin hatte mir ein oder zwei Mal Blumen geschenkt, traurige, zottelige Gebinde aus dem Supermarkt. Er hatte mir auch im Garten seiner Mutter Blumen gepflückt und sie in einem Bierkrug auf den Küchentisch gestellt, wo ich sie fand, als ich aus der Schule nach Hause kam. Das hier waren meine ersten Rosen.
Ich hatte keine Zeit mehr, sie in mein Apartment zu bringen, bevor ich zur Arbeit fuhr, also nahm ich sie mit. Ich musste mir nicht die Mühe machen, sie sofort ins Wasser zu stellen, denn jeder Stiel steckte in einem kleinen Plastikröhrchen, aber ich arrangierte sie in einer Vase und stellte sie an einen Platz, wo ich sie von meinem Schreibtisch aus sehen konnte.
In der einen Minute lächelte ich, wenn ich sie ansah, in der nächsten runzelte ich die Stirn. Eric hätte sich nicht bei mir entschuldigen müssen, aber es war süß, dass er es getan hatte. Und er hatte dabei nicht viel Zeit verstreichen lassen.
„Paige, ich …“ Paul blieb in seiner Bürotür stehen. „Hübsche Blumen.“
„Danke.“ Mit einem Mausklick speicherte ich mein Dokument, dann hob ich den Kopf und sah ihn an. Er hatte einen Zettel in der Hand. Eine Liste, nach der ich die Hand ausstreckte.
Er gab sie mir nicht. Stattdessen hielt er sie mit beiden Händen fest und ließ seine Finger an dem Papier entlanggleiten. Wieder schaute er meine Blumen an.
„Kann ich etwas für Sie tun, Paul?“
Er räusperte sich und faltete die Liste ein Mal, dann noch ein Mal. „Vivian würde sich gerne heute mit uns zusammensetzen, um über die Möglichkeiten Ihrer Beförderung zu sprechen. Wir haben Lunch bestellt. Für elf Uhr.“
Er sagte das, als hätte ich die Wahl, als wäre er nicht mein Chef. Er faltete den Zettel ein weiteres Mal und steckte ihn dann in die Tasche seiner grauen Anzughose. Heute trug er ein Hemd in blassem Pink, dazu eine braune Krawatte. Er wirkte sehr gefasst.
„Ich bin nicht sicher, ob ich mit Vivian über eine Beförderung sprechen möchte.“
Paul nickte und schenkte mir ein verhaltenes Lächeln. „Es kann nicht schaden, sich anzuhören, was sie zu sagen hat, Paige.“
Er hatte recht, also nickte ich und wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Computer zu. Paul wartete noch ein paar Sekunden, bevor er mich allein ließ. Ich starrte eine Weile in den Monitor, ohne die Worte aufzunehmen, die dort standen.
Um zehn vor elf klapperte Vivian in ihren teuren High Heels ins Büro. Sie brachte einen riesigen Becher mit, einen von der Sorte, die man im Lebensmittelladen kauft und dann dazu benutzt, sich am Trinkbrunnen im Büro Wasser zu holen. Das Gefäß wirkte im Vergleich mit ihrem maßgeschneiderten Kostüm und ihrem Schmuck vollkommen
Weitere Kostenlose Bücher