Anonym - Briefe der Lust
fehl am Platz, aber sie umklammerte es, als würde sie es mit ihrem Leben verteidigen, sollte jemand versuchen, es ihr wegzunehmen.
„Paige.“ Sie nickte mir zu. Eine Sekunde später fiel ihr ein, dass sie vielleicht auch lächeln sollte.
„Vivian.“ Ich stand nicht von meinem Schreibtisch auf, aber ich nahm die Hände von der Tastatur. „Paul sagte, Sie würden um elf Uhr kommen. Er ist in seinem Büro. Ich komme nach, sobald ich diesen letzten Text fertiggeschrieben habe.“
Mein Lächeln sorgte dafür, dass sich meine Mundwinkel hoben, aber ich spürte es nicht in den Augen. Vivian nahm einen großen, gurgelnden Schluck aus ihrem Becher und ging in Pauls Büro, nachdem sie mit ihren Fingerknöcheln flüchtig an den Türrahmen geklopft hatte, um ihr Kommen anzukündigen. Es war ein kleiner und doch mächtiger Sieg, den ich errungen hatte. Sie konnte sich nicht beklagen, dass ich nicht pünktlich war, aber ich hatte deutlich gemacht, dass ich nicht vorhatte, mich hetzen zu lassen.
Ich bin keine Freundin von Horrorfilmen, ganz besonders nicht von der Sorte, bei der ein Mädchen ganz genau weiß, dass im Keller oder auf dem Dachboden etwas Grausiges lauert, aber trotzdem dorthin geht, nur bewaffnet mit ihrem ohrenbetäubenden Kreischen und einem Kochlöffel. Nun in Pauls Büro zu gehen, erschien mir ähnlich dumm. Mir war klar, worüber sie mit mir sprechen wollten, und ich wusste, dass ich nicht über dieses Thema diskutieren wollte.
Ich arbeitete gern für Paul, obwohl ich „nur“ eine Assistentin war. Das war nicht alles, was ich hoffte zu erreichen. Ich wollte diesen Job nicht für immer. Aber für den Moment. In eine andere Position aufzusteigen und für jemand anders zu arbeiten, reizte mich nicht, obwohl ich es besser wusste. Außerdem wollte ich nicht für Vivian Darcy arbeiten. Ich mochte sie nicht, und ich glaubte nicht, dass sie mich mochte, was ihr plötzliches Interesse an mir umso rätselhafter machte.
Trotz alledem stand ich um Punkt elf Uhr von meinem Schreibtisch auf und klopfte an Pauls Tür. Sie lachten gerade und steckten die Köpfe zusammen, und als ich eintrat, blickten sie auf. Sofort schaffte Paul Abstand zwischen ihr und sich, indem er seinen Stuhl nach hinten schob. Vivian rührte sich nicht. Ihr Becher stand am Rand von Pauls Schreibtisch, was seltsam vertraulich wirkte.
Ich hatte ihm keinen Kaffee gebracht, aber er trank noch aus einem extra großen Becher von Starbucks, ich nahm also an, dass er versorgt war. Ich setzte mich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, achtete aber darauf, weit genug entfernt zu sitzen, damit meine Knie nicht an das Holz stießen. Ich schlug die Beine übereinander und sah sie an, nicht ihn, und sie erwiderte starr meinen Blick.
„Also, Paige.“ Vivians Lächeln erschien mir kein bisschen wärmer als sonst, obwohl ich annahm, dass sie sich mehr Mühe gab als üblicherweise. Sie schob sich mit einem ihrer sorgfältig manikürten Finger eine kurze blonde Locke hinters Ohr und sagte nichts weiter.
Ich lächelte ebenfalls.
Nach einigen Sekunden räusperte sich Paul und stützte sich mit den Ellbogen auf den Schreibtisch. „Paige, Vivian hat in der Marketingabteilung einige neue Jobs geschaffen, die die erste Stufe für mehrere geplante Beförderungen darstellen. Die Grundidee ist, weitere Führungspositionen zu schaffen, die mit eigenen Leuten besetzt werden. Sie suchen nun innerhalb der Firma Leute, bei denen sie das Gefühl haben, sie würden in die Abteilung passen.“
„Und Sie denken, dass ich in Ihre Abteilung passe?“
Während ich auf ihre Antwort wartete, beobachtete ich ihren Gesichtsausdruck ganz genau. Ihr Blick ging ganz kurz in Pauls Richtung und dann zurück zu mir. Das sollte ich nicht bemerken. Vielleicht war ihr selbst nicht einmal aufgefallen, dass sie als Erstes ihn ansah, so rasch schaute sie wieder weg. Aber mir war es nicht entgangen.
„Oh ja“, erwiderte Vivian. „Auf jeden Fall. Paul spricht so gewinnend über Sie.“
Mal im Ernst, was sollte das denn heißen? Abgesehen von der Tatsache, dass ich mir ziemlich sicher war, noch niemals in einem solchen Zusammenhang dieses Wort gehört zu haben, wer sagt jemals „gewinnend“? Außer natürlich eine Frau, die versucht, etwas Schmeichelhaftes über eine andere Frau zu sagen, die sie eigentlich nicht leiden kann.
Und dann begriff ich endlich.
Paul und Vivian schliefen miteinander. Sie waren sehr gut darin, es geheim zu halten, und gingen viel diskreter vor, als eine
Weitere Kostenlose Bücher