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Anonym - Briefe der Lust

Anonym - Briefe der Lust

Titel: Anonym - Briefe der Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan Hart
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einem zappelnden kleinen Jungen. Arty versuchte, mir die Luft abzudrücken, was ihm auch fast gelang. Ich weigerte mich zu McDonald’s zu gehen, ließ mich aber zu Wendy’s überreden. Dort meinte er, mir einen Frosty abgeschwatzt zu haben, obwohl ich in Wirklichkeit eine Entschuldigung suchte, selbst auch einen zu essen.
    Plötzlich sprang Arty von unserem Tisch auf und schoss quer durch den Raum. „Leo!“ Arty schien unfähig zu sein, in einer Lautstärke zu sprechen, die nicht mindestens als Brüllen zu bezeichnen war. Doch Leo schien das nichts auszumachen. Geduldig ließ er zu, dass Arty auf ihm herumkletterte, dann sah er mich über den Kopf des aufgeregten Jungen hinweg an.
    „Hallo Paige.“
    „Was … Hallo“, stotterte ich. „Was machst du hier?“
    Er hob seine Tüte mit Essen. „Ich besorge mir mein Dinner.“
    Arty beschäftigte sich inzwischen wieder mit dem Spielzeug, das er in seiner Tüte mit dem Kindermenü gefunden hatte. Leo zögerte, aber ich deutete auf unseren Tisch, und er setzte sich zu uns. „Es ist schön, dich zu sehen, Leo.“
    „Ich freue mich auch. Was gibt es Neues?“
    Von allen Freunden, die meine Mutter im Laufe der Jahre gehabt hatte, war Leo derjenige, den ich am liebsten mochte. Er hatte sich nie als mein Vater aufgespielt, mir auch nie seine Freundschaft aufgedrängt. Vielleicht lag das daran, dass ich bereits erwachsen gewesen war und gerade bei meiner Mutter auszog, als sie sich kennenlernten.
    Ich warf Arty einen Blick zu. Er war in seiner eigenen Welt gefangen, in der Pommesfrites-Kanonen Ketchup abfeuerten. „Ich dachte, du und Mom wärt zusammen weggefahren.“
    Leo wandte keine Sekunde den Blick ab, doch sein Mund wurde inmitten seines wilden Bikerbarts zu einer harten Linie. „Offensichtlich sind wir das nicht.“
    „Wo ist sie denn dann hingefahren?“
    Er zuckte mit den Schultern und schaute weg. „Das ist eine Sache zwischen dir und deiner Mom, Paige.“
    Ein anderer Mann? Das musste es sein. Aus welchem anderen Grund hätte Leo so … verloren aussehen sollen? Und bei einem Mann seiner Größe, mit diesem Bart, den Tattoos und der Bikerjacke aus Denim war ein verlorener Blick das Letzte, was ich erwartet hätte zu sehen.
    „Ich muss los“, erklärte Leo und beugte sich über den Tisch, um Artys Haare zu zerzausen. „Pass gut auf den Kleinen auf.“
    „Natürlich.“ Ich sah ihm hinterher, während er nach draußen ging, dann wandte ich mich wieder Arty zu. „Was hat Mom zu dir gesagt, wo sie hinfährt?“
    „In einen Spar“, antwortete er.
    „Ein Spa?“
    „Klar, habe ich doch gesagt. Ein Spa. Sie geht zu einer Massage.“
    Ich seufzte. „Eine Massage?“
    Er grinste und zeigte eine frische Zahnlücke. „Klar.“
    „Allein?“
    „Ich glaube.“ Arty zuckte mit den Schultern.
    Es war nicht so, dass ich erwartet hatte, er würde mehr wissen, aber warum hatte sie mich belogen?
    Ich wachte völlig verwirrt auf, als eine kleine Hand an meinem Arm zog. In der Erwartung, Arty zu sehen, richtete ich mich auf, um nach der Lampe neben meinem Bett zu tasten, aber dort stand keine. Ich blinzelte, bis ich im dunklen Zimmer etwas erkennen konnte. Mein Bruder stand nicht neben meinem Bett. Die Berührung, die ich gespürt hatte, war aus dem Nichts gekommen.
    Ich setzte mich kerzengerade hin, und die Decken, die ich so sorgfältig um mich festgestopft hatte, behinderten mich jetzt. Am Fußende meines Betts standen zwei kleine Kinder, beide etwa in Artys Alter, und hielten einander bei den Händen. Es waren blasse weiße Kinder, und ich brauchte keine Lampe, um sie zu sehen, denn beide leuchteten in der Dunkelheit. Blasse Kinder mit leeren Höhlen dort, wo ihre Augen hätten sein sollen. Von ihren wunden Fingerspitzen tropfte Blut. Hinter ihnen stand die Tür zum Dachboden weit offen.
    Ich wartete darauf, dass das Blut aus der Tür lief wie in Shining , aber nichts geschah, außer dass die Kinder mich weiter anstarrten. Das Pochen meines Herzens wurde zu einem Donnern, und ich tat das Einzige, wozu ich den Mut hatte. Ich schloss die Augen und hielt mir auch noch die Hände davor.
    Nichts passierte, bis ich eine leise Stimme wispern hörte: „Hilf uns.“
    Dann schrie ich und schrie und schrie … bis mein Telefon klingelte und ich mich im Bett aufrichtete. Die Tür zum Dachboden war immer noch geschlossen. Es waren keine Geisterkinder da, die flehten, ich solle mich ihrer annehmen. Es war nicht einmal richtig dunkel im Zimmer, denn durchs Fenster fiel das

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