Anonym - Briefe der Lust
Sie sagte nichts, als sie mir half, es in hübsches Geschenkpapier einzuwickeln, das als Gratisbeigabe einem Spendenaufruf beigelegen hatte.
Ich war so stolz auf das Geschenk. Ich glaubte, Stella, die nicht annähernd so hübsch war wie meine Mutter, sich aber viel Mühe mit ihrem Aussehen gab, würde es auspacken und sofort anziehen. Dann würde sie mich anlächeln, und mein Dad würde mich anlächeln, und wir würden alle glücklich sein.
Stattdessen hatte sie die Verpackung geöffnet und das Top herausgenommen. Ihr Blick hatte sofort den meines Vaters gesucht, aber Männer haben keine Ahnung von Mode, sie wissen nur, was ihnen gefällt und was sie nicht leiden mögen. Sie zog es nicht an. Sie befühlte den seidigen roten Stoff und suchte unauffällig nach dem Label. Als sie das Etikett sah, weiteten sich ihre Augen. Dann wickelte sie das Top wieder in das Papier und dankte mir auf eine Weise, von der selbst eine Neunjährige sagen konnte, dass sie unecht klang. Ich sah sie das Oberteil niemals tragen, aber ein paar Jahre später fand ich es in der Garage in der Kiste mit Lumpen, die mein Vater zum Autowaschen benutzte.
Ich war keine neun Jahre mehr alt. Ich war nicht mal mehr ein Teenager mit viel zu viel Make-up und einem viel zu kurzen Rock. Inzwischen hatte ich gelernt, wie man sich kleidete und wie man redete, aber ein Teil von mir würde immer die Tochter meiner Mutter sein, zumindest in Stellas Augen.
„Oh, Paige, was für ein aufmerksames Geschenk.“ Stella hob die Schachtel mit dem Papier hoch und öffnete sie, um den Stift herauszunehmen. Sie bewegte ihn hin und her und ließ die kleine Troddel am Ende tanzen. „Sehr hübsch. Vielen Dank.“
Ich stieß einen langen, stummen Seufzer aus. „Gern geschehen.“
„Wo findest du so schöne Dinge?“, fuhr Stella fort. Sie wandte sich an ihr Publikum. „Paige findet immer die allerhübschesten Sachen.“
Das war es! Zwar läuteten die Glocken nicht, und es flogen auch keine kleinen Vögel mit glitzernden Flügeln durch die Luft. Sie hatte sich bedankt, und mir schien, es war ehrlich gemeint. Mehr brauchte ich nicht.
Dennoch verschwand ich, bevor die Party vorbei war. Mein Dad erwischte mich an der Tür. Er bestand darauf, mich zu umarmen.
„Danke, dass du gekommen bist.“ Ich war sicher, dass auch er meinte, was er sagte.
Ich bezweifle, dass es irgendjemanden gibt, der keine komplizierte Beziehung zu seinen Eltern hat. Es liegt mir also fern, zu behaupten, ich sei etwas Besonderes. Wenn man die Umstände meiner Entstehung bedenkt, kann ich froh sein, dass ich überhaupt irgendeine Art von Beziehung zu meinem Dad habe. Und größtenteils ist diese Beziehung sogar ehrlich. Außer in den Situationen, wenn Ehrlichkeit schmerzlich wäre.
„Es ist doch selbstverständlich, dass ich komme“, erwiderte ich. „Weshalb hätte ich nicht kommen sollen?“
„Du kommst jedes Jahr“, stimmte mein Dad zu. „Nun, ich bin froh, dass du es auch dieses Mal getan hast. Wie gefällt es dir in der neuen Wohnung?“
„Die Wohnung ist toll.“ Er hielt mich noch immer im Arm, und ich hätte mich am liebsten aus der Umarmung herausgewunden. „Es ist eine schöne Gegend.“
„Und dein neuer Job?
Der Job, den ich jetzt schon sechs Monate hatte, fühlte sich nicht mehr sonderlich neu an. „Der ist auch toll. Ich mag meinen Chef sehr.“
„Gut. Das Büro ist in der Union Deposit Road, richtig?“ „In Progress“, erklärte ich ihm. „Etwas außerhalb von Progress.“
„Ah so. Nun ja, vielleicht sollte ich eines Tages mal vorbeikommen und dich zum Mittagessen bei Cracker Barrel einladen. Was sagst du dazu?“
„Gerne, Dad.“ Ich lächelte ihn an. Ohnehin erwartete ich nicht von ihm, dass er diesen Plan jemals wahr machte. „Ruf mich einfach an.“
Er küsste mich auf die Wange, drückte mich noch einmal und machte ein Riesengetue daraus, dass er mein Vater ist und ich seine Tochter bin. Obwohl wir beide wussten, dass es nur Show war, erfüllte es seinen Zweck.
In dem Moment, in dem ich ins Auto stieg und die Haustür sich schloss, entspannte sich jeder Muskel in meinem Körper. Ich atmete mehrmals tief durch und hob die Arme, um meine Achselhöhlen zu lüften. Morgen würde ich an Stellen Muskelkater haben, von denen ich überhaupt nicht bemerkt hatte, dass sie angespannt gewesen waren. Mein Kopf tat jetzt schon weh. Ich hatte eine weitere große Familienfeier überstanden, ohne dass irgendeine Katastrophe passiert war.
8. KAPITEL
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