Anonym - Briefe der Lust
man es erwartet.“ Sie redete nicht mit mir, aber ich nickte dennoch.
„Ich wünschte, meine Rechnungen würden nicht kommen.“
Sie wandte sich mir zu und betrachtete mich von Kopf bis Fuß, während ihr Mund sich ein weiteres Mal zu etwas verzog, das wohl ein Lächeln darstellen sollte. Ihr Blick taxierte meinen Mantel, der den gleichen Schnitt und die gleiche Farbe hatte wie ihrer, aber nicht so schön war. Sie betrachtete auch meine Beine, die in hautfarbenen Strumpfhosen steckten. Schließlich blieb ihr Blick an meinen Schuhen hängen. Sie schienen das Einzige an mir zu sein, das auch nur annähernd ihre Zustimmung fand, aber sie zog nur eine ihrer Augenbrauen hoch und stieß ein kleines, falsches Lachen hervor, während sie die Post in ihre Kate-Spade-Tasche stopfte und sich auf ihren dazu passenden Pumps umdrehte.
Miststück.
Oh, ich wusste bereits, was Disziplin für mich bedeutete.
Disziplin war es, die mich davon abhielt, ihr mit dem Absatz einer meiner Schuhe, die auch nur ganz knapp Gnade vor ihren Augen gefunden hatten, den Hinterkopf zu zertrümmern. Disziplin sorgte dafür, dass ich mein Kinn vorreckte und meine Lippen zu einem freundlichen Lächeln zwang, anstatt die Mundwinkel hängen zu lassen. Die Tränen brannten hinter meinen Augenlidern, liefen mir aber nicht über die Wangen.
Das war Disziplin, vielleicht aber auch Stolz. Oder Eigensinn. Wie auch immer man es bezeichnen mochte, ich hatte genügend Gründe, hart zu mir selbst zu sein.
Ich wartete, bis sie fort war, dann erst durchquerte ich die Halle und ging durch die Drehtür. Draußen spiegelte der graue bedeckte Himmel meine Stimmung wider, und mit dem Wind wehte mir Zigarettenrauch entgegen. Automatisch schaute ich mich um, während ich mich fragte, ob da jemand gerade über Disziplin nachdachte.
„Ari“, stellte ich überrascht fest. „Hi.“
Miriams Enkel warf seine Kippe schwungvoll in den Standascher vor der Tür und klappte seinen Kragen hoch. „Hallo, Paige.“
„Ich wusste gar nicht, dass du hier wohnst.“
Er grinste. „Tue ich auch nicht. Ich hab nur für meine Großmutter etwas abgeliefert, weißt du?“
Ich wusste von nichts, aber ich nickte. „Richte ihr schöne Grüße von mir aus.“
„Schau im Laden vorbei und richte sie ihr selber aus“, schlug er vor und zeigte mir beim Lächeln seine niedlichen Grübchen.
Ich fand es ganz nett, dass jemand mit mir flirtete, wenn er dabei auch nicht sonderlich leidenschaftlich wirkte. „Das werde ich machen. Einen schönen Tag noch.“
„Dir auch.“
Auf dem Weg über die Straße in Richtung Parkgarage schaute ich mich um, und Ari sah mir noch nach. Vielleicht war da doch ein kleines bisschen Leidenschaft. Und welcher Frau gefällt es nicht, wenn ein Mann Interesse an ihr hat? Mein Lächeln war breiter als zuvor, und ich lächelte auf dem ganzen Weg bis zur Arbeit.
Ich war nicht zu spät, sondern eher ein paar Minuten zu früh im Büro, aber mein Chef hatte schon einen Stapel Papiere auf meinen Schreibtisch gelegt. Manchmal war es noch schlimmer. Er hätte mit seinem leeren Kaffeebecher in der Hand neben meinem Schreibtisch auf mich warten können. Das tat er gelegentlich, obwohl ich genau wusste, dass er ebenso gut Kaffee kochen konnte wie ich. Wahrscheinlich sogar besser, weil er das starke Zeug wie Wasser trank, während ich mich auf ein oder zwei Becher am Tag beschränkte.
Als ich den leeren Starbucks-Becher im Müll entdeckte, wusste ich, dass er die erste Dröhnung des Tages schon gehabt hatte. Ich würde also noch ein bisschen Ruhe vor ihm haben und konnte die Vorgänge ordnen und ablegen, ohne dass er hinter mir stand und jeden meiner Handgriffe verfolgte. Dennoch beschloss ich, die Kaffeemaschine in Gang zu setzen, nur für den Fall. Es gab viele Tage, an denen ich jede Bewegung meines Chefs vorhersagen konnte, von der Frühstückspause, wenn der Bagelverkäufer vorbeikam, bis zu seinem Ausflug auf die Toilette nach dem Mittagessen.
Heute war keiner dieser Tage.
„Paige. Hören Sie zu. Ich will, dass Sie sich schnell um die Vorgänge auf Ihrem Schreibtisch kümmern, okay?“
Ich wandte mich ihm von dem kleinen Becken in der Teeküche zu, wo ich gerade dabei gewesen war, die Kaffeekanne mit Wasser zu füllen. „Sicher, Paul. Natürlich.“
Wahrscheinlich war er jedes Mal höchst erstaunt, dass jemand wie ich, die ich nur auf dem öffentlichen College gewesen war, dennoch einfache Schlussfolgerungen ziehen konnte.
„Gut.“ Paul nickte und
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