Anonym - Briefe der Lust
strich seine Krawatte zwischen Daumen und Zeigefinger glatt, während er mir dabei zusah, wie ich an der Kaffeemaschine herumhantierte.
Bis jetzt hatte ich noch nicht herausgefunden, ob Paul so häufig in meiner Nähe herumlungerte, weil er befürchtete, dass ich Mist baute – oder weil er das hoffte. Wie auch immer, es machte mir längst nicht so viel aus, wie es bei einigen anderen der persönlichen Assistentinnen in unserem Stockwerk der Fall gewesen wäre. Brenda zum Beispiel prahlte gerne damit, dass ihre Chefin Rhonda die meiste Zeit auf Reisen war, sodass sie kaum etwas mit ihr zu tun hatte. Sie gab auch damit an, dass sie schon viel länger bei Kelly Printing arbeitete als Rhonda, deshalb sehr genau wusste, was sie zu tun hatte und ihre Arbeit viel schneller und besser ohne die Einmischung ihrer Chefin machen konnte.
Ich verriet Brenda nicht, dass ich Pauls ständige Überwachung eher angenehm als ärgerlich fand. Es war schließlich so, dass man mich niemals für etwas verantwortlich machen konnte, was nicht richtig lief, wenn er mir gar nicht die Möglichkeit gab, selbstständige Entscheidungen zu treffen. Stimmt’s? Selbst wenn Paul mal auf Reisen ging, fuhr er niemals weg, ohne mir einen ganzen Block voll mit Anweisungen zu hinterlassen und Listen … Listen.
Mir fiel die Karte ein, die ich in meinem Briefkasten gefunden hatte. Die zweite inzwischen. Zwei fehlgeleitete Nachrichten mit ausführlichen und für mich sehr geheimnisvoll klingenden Anweisungen. Immer noch meinte ich, das glatte Papier unter meinen Fingerspitzen zu fühlen. Mittlerweile bedauerte ich es, dass ich mir nicht die Zeit genommen hatte, an der Tinte zu riechen.
Als der Kaffee begann durchzulaufen, wandte ich mich Paul zu. „Gibt es sonst noch was?“
„Im Moment nicht, danke.“ Paul lächelte, verschwand wieder in seinem abgeschiedenen Gemach und ließ mich allein mit der blubbernden Kaffeemaschine und einem Stapel Papiere, um die ich mich kümmern musste.
Ich wusste einiges über Paul Johnson, meinen Chef. Er hatte eine hübsche, pausbäckige Ehefrau namens Melissa, die manchmal vergaß, seine Sachen rechtzeitig von der Reinigung abzuholen, und zwei Kinder im Teenageralter, die zu sehr mit gesunden Beschäftigungen wie Sport und Jugendgruppen beschäftigt waren, um in Schwierigkeiten zu geraten. Ich wusste das, weil ich die Familienfotos gesehen und zufällig einige seiner Telefongespräche mit angehört hatte. Er hatte einen älteren Bruder, der Peter Johnson hieß, und mit dem er mehrmals im Jahr Golf spielte, jedoch nicht häufig genug, um ein guter Golfspieler zu sein. Das wusste ich, weil er mich einmal gebeten hatte, für ihn eine Reservierung auf einem der örtlichen Golfplätze vorzunehmen und seinen Bruder anzurufen, um die Verabredung zu bestätigen. Dieser Auftrag ging ein wenig über meinen Aufgabenbereich hinaus, aber ich erledigte ihn dennoch. Außerdem wusste ich, dass Paul siebenundvierzig Jahre alt war. Seinen Abschluss in BWL hatte er an der Wharton-School in Pennsylvania gemacht. Er ging jeden Sonntag mit seiner Familie in die Kirche und fuhr einen schwarzen Mercedes, der jedoch nicht mehr brandneu war.
Das waren die Dinge, die ich über ihn wusste.
Und Folgendes dachte ich über Paul Johnson, meinen Boss: Er war kein Tyrann. Nur gewissenhaft. Er arbeitete selber ebenso sorgfältig, wie er es auch von seiner Assistentin erwartete, und das schätzte ich. Er konnte witzig sein, selbst wenn das nicht oft vorkam. Er widmete sich jeder Aufgabe mit voller Konzentration und vollem Einsatz, weil er es nicht ertrug, weniger zu geben. Auch das verstand ich und wusste es zu schätzen.
Ich arbeitete jetzt seit fast sechs Monaten für ihn. Er hatte mich aufgefordert, ihn Paul zu nennen und nicht Mr Johnson, aber wir waren nicht miteinander befreundet. Das war in Ordnung für mich. Ich wollte nicht, dass mein Boss auch gleichzeitig mein Kumpel war.
Obwohl es sich manchmal so anfühlte, als würde ich nichts anderes tun, als Kaffee zu kochen und die Ablage zu erledigen, war ich in meinem Job doch für einiges mehr verantwortlich. Ich musste Dokumente prüfen und verschicken, Rechnungen schreiben und Termine machen. All das tat ich, um Paul den Rücken frei zu halten, damit er tun konnte, was auch immer er den ganzen Tag in seinem riesigen, protzig eingerichteten Büro tat. Selbst unter Folter wäre ich nicht in der Lage gewesen, irgendjemandem zu verraten, was das ganz genau war.
Weder hasste ich meinen Job noch
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