Anonym - Briefe der Lust
speicherte und E-Mails verschickte. Während er in seinem Büro verschwand, fuhr ich meinen Computer herunter.
Als ich meine Jacke anzog und nebenbei meine Wasserflasche einpackte, tauchte Paul wieder in seiner Tür auf. Obwohl der Arbeitstag so gut wie vorüber war, hatte er weder seine Krawatte gelockert noch sein Jackett ausgezogen. Er sah müde aus.
„Ich bin erstaunt, dass Sie noch hier sind, Paige.“ Er wich so offenkundig meinem Blick aus, dass es nicht zu übersehen war. „Ich habe alle Dateien erhalten, die Sie mir geschickt haben.“
Ich hätte so tun können, als wäre zwischen uns alles in bester Ordnung. Vielleicht hätte ich das machen sollen, aber sein Verhalten wurmte ich. „Ist alles in Ordnung? Ich meine, ich habe doch alles gemacht, was Sie mir aufgetragen haben, nicht wahr?“
Er nickte, doch als er antwortete, was seine Stimme barsch, und er vermied immer noch, mich anzusehen. „Ich bin sehr angetan von Ihrer Arbeit.“
Ich musste an das denken, was Brenda mir erzählt hatte. Dass die Mädchen es nie lange bei ihm aushielten. Nun, ich brauchte diesen Job, und ich wollte verdammt sein, wenn ich mich freiwillig geschlagen gab. Ich konnte einen anderen Job finden, falls ich es wollte, aber das würde genau dann passieren, wenn ich es wollte. Nicht, wenn Mr Johnson beschloss, mir ein so mieses Gefühl bei der Arbeit zu verschaffen, dass ich kündigte.
Doch es ging noch um etwas anderes. Um Stärke und Schönheit. Schwächen und Stärken. Listen. Um gefesselte Handgelenke und verbundene Augen und darum, dass jemand mir sagte, was ich tun sollte, ohne dass ich selber darüber nachdenken musste.
Wir starrten einander an, bis er als Erster wegschaute. „Vielen Dank“, sagte Paul. Dann ging er in sein Büro und schloss die Tür hinter sich.
Die fehlgeleitete Nachricht, die mit teurer Tinte auf feines Papier geschrieben war, hatte nicht viel mit dem Zettel gemeinsam, den Paul mir gegeben hatte. Warum aber schien zwischen beiden ein unerklärlicher Zusammenhang zu bestehen?
Kira erreichte mich auf dem Handy, während ich nach Hause fuhr. Unsere Unterhaltung war nur kurz. Möglicherweise bemerkte sie die Spannung zwischen uns nicht, mir fiel sie jedenfalls auf. Es war lange her, seit wir beste Freundinnen gewesen waren, doch mit Kira war es wie mit meinen anderen alten Gewohnheiten. Es war schwierig, mit ihr zu brechen.
Ihr Anruf lenkte mich von Paul und den Listen ab und brachte mich dazu, wieder an Austin zu denken. Ich war mir nicht sicher, ob das besser war. Kira entschuldigte sich nicht dafür, dass sie ihn ins Pharmacy eingeladen hatte, aber sie erwähnte auch Jack nicht, und ich kam zu der Ansicht, dass es unentschieden zwischen uns stand.
Ich ließ sie immer weiter reden, hatte ihr selber aber nicht viel zu sagen. Sie bemerkte meine Wortkargheit nicht oder ignorierte sie, bis sie schließlich auflegte. Erst kurz danach fiel mir ein, dass ich noch ihre Tasche hatte. Typisch. Kira ging immer sorglos mit dem um, was ihr gehörte, ganz gleich, wie viel oder wie wenig es war.
Dort wo ich herkam, konnte ich durchs Hinterland fahren, wenn ich meinen Kopf freibekommen wollte. Die Landstraßen wanden sich durch Kornfelder, Kuhweiden und Wälder, und ich konnte tatsächlich immer weiterfahren, ohne den Highway zu kreuzen. Ich konnte die Fenster öffnen, meine Haare im Wind wehen lassen und mit dem laut spielenden Radio mitsingen. Ich konnte mich selbst auf dem Asphaltband verlieren und die Zeit dazu bringen, stillzustehen.
Hier war das nicht möglich. Wenn ich von meinem üblichen Nachhauseweg abgewichen wäre, hätte ich irgendeine ländliche Straße finden können, aber das hätte mich mehr Mühe gekostet, als es mir wert gewesen wäre. Stattdessen durchlitt ich bei geschlossenen Fenstern und verriegelten Tür den Stop-and-go-Verkehr in der Stadt. Harrisburg war keine Großstadt, doch jeder, der meinte, es gäbe hier keine Verbrechen, war ein Dummkopf.
Der Song wurde im Radio genau in dem Moment gespielt, in dem ich in die Auffahrt zum Parkhaus einbog. Ich hatte gerade auf den Radiosender für das Umland von Philly umgeschaltet. The Cure hatten eine Coverversion von Hendrixs „Purple Haze“ mit ungewöhnlichen Rhythmen und einem merkwürdigen Star-Treck-Effekt aufgenommen. Es war ein alter Song, den die lokalen Radiostationen normalerweise nicht spielten.
Ich wurde schlagartig in die Vergangenheit gebeamt.
„Ihr Ladies seid hier, um die Männer zu sehen, richtig?“ Der Typ hinter
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