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Anonym - Briefe der Lust

Anonym - Briefe der Lust

Titel: Anonym - Briefe der Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan Hart
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für einige Tage oder eine Woche nicht sah. Wenn er morgens im Büro war, versäumte er allerdings nie, zu kommen und mich zu begrüßen, sobald er hörte, dass ich die Tür öffnete. Und wenn es mir einmal gelang, vor ihm am Schreibtisch zu sitzen, kam er dort vorbei, um mir Guten Morgen zu sagen. Aber heute nicht. Durch seine geschlossene Bürotür hörte ich ihn telefonieren, aber er zeigte sich nicht. Allerdings hatte er mir etwas auf den Schreibtisch gelegt.
    Eine Liste.
    Es stand nicht darauf, dass ich stark und mir meiner Schönheit bewusst sein sollte, aber ich konnte nicht aufhören, daran zu denken, während ich die Anweisungen und Aufgaben durchlas, die er mir aufgeschrieben hatte. Sie unterschieden sich nicht von den Dingen, die ich üblicherweise zu tun hatte. Nur meine Reaktion war anders als sonst.
    Ich hätte nie behauptet, dass wir eine enge Beziehung zueinander hatten, aber wir waren immer freundlich miteinander umgegangen. An dem Tag, an dem er mir den Splitter herausgezogen hatte, hätte daraus sogar eine herzliche Beziehung werden können. Offenbar zu herzlich für Paul, denn als er gegen elf aus seinem Büro kam, sah er mich kaum an, während er seinen Mantel anzog und anschließend seine Aktentasche so fest umklammerte, dass seine Fingerknöchel weiß wurden. Ich setzte mich auf meinem Schreibtischstuhl gerader hin.
    Stark und schön.
    „Ich komme gegen vier zurück.“
    Natürlich musste er mich nicht um Erlaubnis bitten, also war mein „Okay“ eine ziemlich dumme Reaktion.
    Mehr sagte er nicht. Wie ein bis zum Zerreißen gespanntes Gummiband vibrierte die Luft zwischen uns. Er vermied es immer noch, mich anzusehen.
    Das machte mich sauer.
    Schließlich hatte ich ihn nicht gebeten, sich um meine
    Wunde zu kümmern und mich anzufassen. Und ich hatte nicht vor, ihn wegen sexueller Belästigung anzuzeigen oder irgendetwas in der Art zu unternehmen.
    Er nickte und wich dabei erneut meinem Blick aus. „Bis später.“
    „Auf Wiedersehen, Paul.“
    Selbst von meinem Platz hinter dem Schreibtisch aus konnte ich sehen, wie seine Ohren knallrot wurden. Ohne ein weiteres Wort ging er einfach aus dem Zimmer. Was mich noch wütender machte.
    Ich war nicht Assistentin der Geschäftsleitung geworden, weil ich von diesem Job geträumt hatte, seit ich ein kleines Mädchen war. Ich wurde Assistentin der Geschäftsleitung, weil offenbar niemand mehr eine Sekretärin hatte. Und weil ich den billigsten und raschesten Abschluss in Betriebswirtschaft gewählt hatte, der es mir ermöglichte, so viel zu verdienen, dass ich Hals über Kopf Lebanon verlassen und ein neues Leben beginnen konnte.
    Ich hatte nie vorgehabt, für alle Ewigkeit einen Job wie diesen zu machen. Die Stelle bei Kelly Printing hatte ich vor allem wegen des Fortbildungsprogramms für Angestellte angenommen, das diese Firma anbot. Ich musste ein Jahr dort arbeiten, bevor ich Abendkurse besuchen konnte, um meinen Master of Business Administration zu machen. Die Kosten würde die Firma mir teilweise zurückerstatten, wenn ich die Prüfung bestand – und ich würde dafür sorgen, dass ich sie bestand. Ich war nicht etwa Assistentin der Geschäftsleitung, weil ich nichts anderes sein wollte. Ich war einfach nur zu arm. Und bis heute hatte sich das, was ich tat, auch nicht schlecht angefühlt. Es war einfach nur eine Stufe auf einer Leiter, die viele Sprossen hatte.
    Die Liste, die Paul mir hinterlassen hatte, war nicht mit teurer Tinte auf glattes Papier geschrieben. Er hatte sie auf die Rückseite eines bereits bedruckten Bogens gekritzelt, und zwar mit einer Handschrift, die so schwer zu entziffern war, dass die Aufgabe dem Knacken eines Codes glich.
    Die durchnummerierten Sätze auf diesem Stück Papier teilten meinen Tag in Abschnitte ein. Sie gaben ihm einen Sinn, einen Ablauf, ein Muster. Dafür brauchte ich Paul nicht; ich war durchaus in der Lage, meine täglichen Pflichten selbst einzuteilen. Und doch, während ich die Anweisungen anstarrte, überkam mich ein Gefühl der Zufriedenheit, bevor ich auch nur eine einzige Aufgabe erfüllt hatte.
    Ich glaube, er war ziemlich überrascht, als er kurz nach meinem offiziellen Feierabend ins Büro zurückkehrte. Ich hatte nicht herumgetrödelt, aber die Liste war ziemlich lang gewesen, und einige der Aufgaben waren vollkommen neu für mich. Ich fand dennoch heraus, wie sie zu erledigen waren, und meine Finger klapperten auf der Tastatur herum, während ich Kalkulationstabellen ausfüllte, Dateien

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