Anonym - Briefe der Lust
passiert. Damals war ich eine andere gewesen.
Jedenfalls dachte ich das.
11. KAPITEL
Obwohl ich morgens in meinen Briefkasten geschaut hatte, konnte ich nicht widerstehen, noch einmal hineinzusehen, als ich nach Hause zurückkam. Ich erwartete, durch das kleine Glasfenster nur das leere Innere des Kastens zu erspähen, also war es auch genau das, was ich zunächst sah. Dann fiel mein Blick auf einen schwarzen Schatten auf dem Metallboden der Box, und ich schnappte beinah schmerzhaft nach Luft. Da lag etwas in meinem Briefkasten.
Wahrscheinlich eine Mitteilung von der Mietervereinigung, die nur zu gern Memos verteilte. Aber diese Nachrichten kamen normalerweise auf billigem Computerpapier. Der Text wurde mehrmals auf einen Bogen gedruckt, der dann in Hälften oder Drittel gerissen wurde. Das hier war kein solcher Zettel.
Ich zog den Umschlag mit der Karte aus dem Briefkasten. Er war wieder nicht an mich adressiert. Plötzlich misstrauisch geworden, schaute ich mich um. Ich habe Überraschungen noch nie gemocht. Nicht auf Partys, nicht in Beziehungen, nicht wenn man mir einen Streich spielt.
In der Halle und vor den Fahrstühlen standen ein paar andere Mieter. Einige mir unbekannte Leute gingen an mir vorbei in Richtung der Treppen, die ins Kellergeschoss führten. Niemand schaute mich an. Falls mich irgendjemand beobachtete, um zu sehen, was ich tat, geschah das sehr diskret.
Aber wieso sollte mich jemand beobachten? Ich hatte die anderen Nachrichten an den rechtmäßigen Empfänger weitergeleitet. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass derjenige, der die Umschläge in meinen Briefkasten gesteckt hatte, gar nicht wusste, dass sie zunächst in der falschen Box gelandet waren. Und doch war etwas seltsam an der Sache. Warum sollte jemand immer wieder und wieder den gleichen Fehler machen?
Und wenn es überhaupt kein Fehler war?
Aber mir fiel absolut kein Grund ein, weshalb jemand ausgerechnet mir kleine sexy Anweisungen schicken sollte. Ich schaute mich noch einmal um, während ich mit der Karte gegen meine Handfläche klopfte. Ich betrachtete den Briefkasten mit der Nummer 114. Ich spähte durch das Glas in diese Box, sah drinnen Zeitschriften und Briefe liegen und näherte meine Hand mit dem Umschlag dem Schlitz.
Ich würde die Karte nicht lesen. Ich durfte sie nicht lesen. Ich wollte das Risiko, sie zu lesen, nicht eingehen.
Ich schwöre, ich war machtlos dagegen. Ich war durstig, und es war ein Glas kühles Wasser; ich war hungrig, und es war ein Laib Brot. Ich litt unter PMS, und es war eine Tafel Schokolade und eine Schüssel Eiscreme mit Erdnüssen und Karamellsoße. Es war die Kirsche auf dem Kuchen.
Noch einmal schaute ich mich um, und sobald ich sicher war, dass niemand mich beobachtete, schob ich die Karte in meine Tasche und eilte zum Fahrstuhl. Gerade als ich vor meinem Apartment stand, begann mein Telefon zu klingeln. Der Anrufbeantworter hatte sich bereits eingeschaltet, bevor ich nach dem Mobilteil greifen konnte, und meine Mom hatte schon angefangen zu reden.
„Paige. Hier ist Mom. Ruf mich …“
„Mom. Hi.“ Die Nachricht, ungeöffnet und ungelesen, verbrannte die Haut meiner Hand.
„Entscheidest du erst, ob du drangehst, wenn du weißt, wer dich anruft?“ Sie klang amüsiert.
Ich atmete ein paarmal tief durch und starrte die Zahlen auf dem Umschlag an. „Nein. Ich bin gerade eben nach Hause gekommen.“
Sofort wurde sie munter. „Oh? Warst du unterwegs?“
„Ja, Mutter“, erwiderte ich. „Sonst hätte ich nicht zurückkommen können.“
„Und wo warst du?“
„Ich hatte kein Date, wenn es das ist, was du gern hören willst“, erklärte ich ihr, um ein bisschen in der Wunde zu stochern.
„Das ist schade für dich.“
„Ja, ja. Was gibt es?“ Ich legte die Nachricht mitten auf den Küchentisch, wo ich sie gut im Blick hatte. Dann umkreiste ich sie. Mit den Gedanken war ich nur halb bei dem Gespräch mit meiner Mutter. Diese neue Karte lenkte mich so ab, dass ich vergaß, ihr weiter böse zu sein.
„Brauche ich einen Grund, meine Lieblingstochter anzurufen?“
Meine Mom war für mich immer eher so etwas wie eine Tante oder eine ältere Schwester als eine Mutter gewesen. Bei meiner Geburt war sie erst neunzehn, ungefähr so alt, wie ich gewesen war, als sie Arthur bekam. Ich behaupte nicht, sie hätte nicht ihr Bestes gegeben. Und jetzt, da ich in meinen Zwanzigern bin und sie in ihren Vierzigern ist, scheint der Altersunterschied noch geringer zu sein als während
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