Anonym - Briefe der Lust
hatte sie sich nur ab und zu getroffen. Nur mit ganz wenigen hatte sie zusammengelebt, und Leo war derjenigen von ihnen, mit dem es am längsten gehalten hatte. Ich war selber erstaunt, wie überrascht ich war, dass er sich von ihr getrennt hatte.
„Warum?“
„Weil ich ihm gesagt habe, dass er ausziehen soll.“ Während meine Mutter in der Schublade nach der Gummiwalze zum Verteilen des Gusses suchte, wedelte sie mit der Hand.
Über uns, wo Arty herumrannte, knarrte der Fußboden. Ich warf einen Blick zur Zimmerdecke und erklärte: „Ich gehe nach ihm sehen.“
„Danke, meine Süße.“
Oben scheuchte ich meinen Bruder ins Bad, damit er sich die Zähne putzte, und von da aus jagte ich ihn ins Bett. Dort packte ich ihn fest ein, umarmte und küsste ihn ein halbes Dutzend Mal. Ich presste ihn an mich. Jetzt roch er nach Popcorn und dem Schweiß eines kleinen Jungen, nicht mehr nach Bonbons.
„Schlaf jetzt, du kleines Ungeheuer.“
Gähnend erklärte er, er sei überhaupt nicht müde, aber als ich aus der Tür huschte, waren seine Augen schon zugefallen. Dann stand ich ein paar Minuten auf dem Flur, ebenfalls mit geschlossenen Augen. Ich hatte nie in diesem Haus gewohnt, aber es roch genauso wie all die anderen Wohnungen, in denen ich jemals mit meiner Mom gelebt hatte. Nach Staub und Schokoladenbrownies, und ganz schwach war auch das Aroma von „Es-reicht-nie-so-ganz“ wahrzunehmen.
Als ich nach unten kam, vibrierte wieder das Handy in meiner Tasche. Ich schob die Hand darüber, um das Summen zu dämpfen, das wie eine gefangene Fliege klang. Meine Mom hatte inzwischen die Brownies mit Glasur überzogen und war gerade dabei, die Hälfte davon in Alufolie zu wickeln, um sie mir mitzugeben. Sie sagte nichts zu dem Anruf, und ich unternahm keinen Versuch, mich zu weigern, den Kuchen mitzunehmen.
Auf dem Weg zur Haustür schlang sie fester als sonst den Arm um mich. „Fahr vorsichtig, meine Kleine.“
Normalerweise wäre meine Antwort gewesen: „Nein, Mom, ich habe vor, absolut rücksichtslos zu fahren.“ Aber dieses Mal schluckte ich die Worte hinunter. Ich erwiderte ihre Umarmung ebenso heftig, wie sie mich drückte. Ich musste sie nicht weinen sehen, um zu wissen, wie sehr die Sache mit Leo ihr zu schaffen machte. Das hatten mir schon die Brownies verraten.
„Ich rufe dich morgen an, okay?“, flüsterte ich in ihr Haar, das immer nach Apfelshampoo duftete.
Sie nickte. Als sie einen Schritt nach hinten machte, schimmerten ihre Augen feucht, aber sie lächelte. „Natürlich, Süße. Gute Nacht.“
Ich sah ihre Silhouette in der offenen Tür, bis ich losfuhr. Als ich die Bahngleise erreichte, war die Lampe über der Haustür aus. Mein Wagen holperte über die Gleise, und ich entfernte mich rasch von dem Haus, das niemals mein Zuhause gewesen war.
Während ich in die Einfahrt zum Parkhaus meines Wohnblocks einbog, vibrierte mein Handy schon wieder. Ich klappte es auf, um alle drei Nachrichten zu lesen. Sie waren alle von Austin.
Wie war der Film?
Grüß Deine Mom von mir.
Darüber musste ich lachen. Dieser Bastard! Er wusste, dass meine Mom ihn immer sehr gemocht hatte. Mehr als seiner Mutter je an ihm gelegen hatte.
Und schließlich: Ruf mich an, wenn Du wieder zu Hause bist.
14. KAPITEL
Ich rief Austin nicht an, als ich nach Hause kam. Auch am nächsten und übernächsten Tag nicht, und obwohl ich jedes Mal zusammenzuckte, wenn mein Telefon klingelte, hörte ich schließlich auf, daran zu denken. Auch er rief mich nicht an.
Alle paar Tage bekam ich eine Karte, aber niemals an einem Tag, an dem ich eine erwartet hätte. Sie trafen nur an den Tagen ein, an denen ich überzeugt war, ich würde keine Anweisung, keine Liste, keinen Befehl erhalten. Ich las jede einzelne Nachricht und merkte mir den Inhalt, bevor ich sie in den Schlitz von 114 warf, einem Briefkasten, der mir inzwischen so vertraut war wie ein Liebhaber.
Gut gemacht! Gönne Dir Dein liebstes Dessert.
Das war ein Stück Zitronentorte gewesen, so unglaublich köstlich, dass ich beim Essen Sexlaute ausgestoßen hatte.
Du hast Dein Essay nicht rechtzeitig geschickt. Offensichtlich bedeutet Disziplin Dir nichts. Vergeude nicht noch einmal meine Zeit.
Ein gesunder, schlanker Körper verdient die passende Kleidung. Kauf Dir ein passendes neues Outfit. Sei dabei nicht knausrig.
Ich wählte ein schlichtes Kostüm, marineblau, passend zu meiner Augenfarbe, mit frischen hellgrünen Streifen an den Säumen und neben der Knopfreihe
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