Anonyme Untote - Eine Zombie-Liebesgeschichte
Dollar.
»Vergiss den Wein und die Kekse«, sagt Jerry und spuckt ein letztes Mal aus. »Zieh deine Schuhe an. Heute ist Herrenabend angesagt.«
Es klingt verlockend, doch es ist schon nach einundzwanzig Uhr. Und seit meinem letzten Abstecher in die SPCA ist mein Vater so weit, mich bei der nächsten Aktion eigenhändig zu zerstückeln; ich bin also auch ohne mitternächtliche Ausgangssperre nicht besonders davon angetan, einen Ausflug ohne Begleitperson zu unternehmen. Doch dann sagt Jerry die magischen Worte.
»Wir besuchen Ray.«
In weniger als zwei Minuten sind wir zur Tür hinaus, ums Haus herum und laufen Richtung Schlucht. Jerry erklärt, dass ein Besuch bei Ray vielleicht Toms Laune hebt und er dann vielleicht aufhört, sich wegen seines Arms
verrückt zu machen. Mag sein, dass das zum Teil tatsächlich Jerrys Beweggründe sind, doch ich habe eher das Gefühl, dass er Tom überredet hat, um sich nochmal Rays Playboy -Sammlung anschauen zu können.
Tom hat Probleme, ohne seinen rechten Arm die Schlucht zu durchqueren. Selbst Jerry rutscht mehrmals aus und landet unsanft auf dem Steißbein; er stößt jedes Mal einen Fluch aus, während er sich die Hose wieder hochzieht. Vielleicht liegt es daran, dass ich so aufgeregt bin, weil wir Ray besuchen. Oder daran, dass ich diese Strecke bereits Dutzende Male zurückgelegt habe. Aber aus irgendeinem Grund habe ich nicht die geringsten Probleme. Weder rutsche ich aus, noch gerade ich in Straucheln. Als hätte ich endlich herausgefunden, wie mein neuer Körper funktioniert.
Wir halten uns auf den Nebenstraßen und unbebauten Flächen, umgehen das Zentrum von Soquel Village, bis wir an der Old San Jose Road herauskommen, kurz vor dem Feld, wo wir Ray und die Zwillinge das erste Mal getroffen haben. Ein paar Autos fahren an uns vorbei, doch abgesehen von einem verspäteten Hupen und einem »Freaks« erreichen wir ohne Zwischenfall den Getreidespeicher.
»Animal Control«, ruft Jerry, während er die Hintertür aufstößt und eintritt.
Tom folgt Jerry ins Innere, und ich trete als Letzter ein. Die Steinwände des Speichers reflektieren flackernd das Licht. Bevor ich Ray sehe, höre ich bereits seine Stimme.
»Kommt rein«, sagt er im nasalen Tonfall eines Bauernjungen, und es würde mich nicht wundern, wenn er gerade eine Kuh melkt. Doch er hockt am Feuer und schaut zu uns herüber, in der Hand eine Bierflasche und neben sich ein halbleeres Einmachglas mit Wildfleisch. Die Zwillinge sind nirgends zu entdecken.
Ray nimmt einen großen Schluck von dem Bier. »Aha, ihr habt einen neuen Freund mitgebracht.«
»Das ist Tom«, sagt Jerry.
Seit er mich um die Kekse gebeten hat, hat Tom kein einziges Wort von sich gegeben. Aber offensichtlich ist er noch hungrig, denn er deutet auf das Einmachglas neben Ray auf dem Boden und sagt: »Was ist das?«
»Rays Geniale Gaumenfreuden«, sagt Ray und spießt ein Stück Fleisch auf. »Wild. Frisch eingemacht. Nimm dir eins von den Gläsern, wenn du Hunger hast.«
»Ich bin Vegetarier«, sagt Tom mit einem Anflug von Ekel.
»Ganz wie du willst«, sagt Ray. »Aber du kannst mir glauben, wenn ich dir sage, du hast keine Ahnung, was du verpasst.«
Mag sein, dass Tom nicht weiß, was er verpasst, ich aber schon, also schleppe ich mich zum Feuer und setze mich neben Ray, der mir ein Glas und eine Gabel in die Hand drückt.
Jerry interessiert sich nicht fürs Essen. »Ich hab die hier wieder mitgebracht«, sagt er und zieht ehrfürchtig wie ein Archäologe, der ein paar alte Manuskripte zutage fördert, einen Stapel Playboys aus seinem Rucksack. »Kann ich mir noch mehr davon ausleihen?«
»Bist du sicher, dass du sie nicht etwas länger behalten willst?«, fragt Ray.
»Nee«, sagt Jerry. »Ich hab die ganzen Bilder in meinen Computer gescannt und ausgedruckt. Ich kann fast meine ganze Schlafzimmerdecke damit zupflastern.«
Er sagt das nicht ohne einen gewissen Stolz.
Wenn Jerry noch unter den Atmern wäre, könnte er sich bei Playboy.com einloggen und die Bilder direkt auf seinen
Computer runterladen. Aber da man als Untoter nicht ins Internet darf, muss Jerry sie sich auf die altmodische Weise besorgen.
»Such dir welche aus«, sagt Ray und tritt an den Lagerbereich hinter mir. »Und wenn dir danach ist, nimm dir eins von den Gläsern.«
Während Jerry seine Playboy -Hefte gegen neue eintauscht, mache ich mich über mein Einmachglas mit dem Wildfleisch her wie ein kleines Kind über einen großen Eisbecher. Es schmeckt so
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