Anonyme Untote - Eine Zombie-Liebesgeschichte
Gel füllt.
Neben den Erinnerungen, die sie verdrängen möchten, und Zweifeln an ihrem Selbstbild werden Untote von zahlreichen
psychischen Leiden gequält, die selbst für den teilnahmsvollsten und fähigsten Therapeuten eine Herausforderung wären. Die meisten dieser Schmerzen werden allerdings von Atmern verursacht.
Ich denke da an Annie.
Daran, dass es mir verboten ist, sie zu besuchen. Oder mit ihr zu reden. Ihr Briefe oder E-Mails zu schreiben oder auf irgendeine andere Weise mit ihr zu kommunizieren. Ich möchte doch nur wissen, wie es ihr geht, dass ihr nichts fehlt, dass sie mit der neuen Situation zurechtkommt.
Einfach nur wissen, dass es sie gibt.
Wenn dir dein Leben entrissen wird und du als Untoter wiedergeboren wirst, kommt dir alles unwirklich vor. Das, was anschließend mit dir passiert. Das, was die Zukunft bereithält. Der Teil deiner Vergangenheit, an den du dich erinnerst. Die Gegenwart ist zu surreal, die Zukunft zu düster, und die Vergangenheit wurde vererbt, verhökert, verschenkt und versteigert und so verstaut, dass du dich an nichts von dem erinnern kannst, was du verloren hast.
Und alles kommt dir noch unwirklicher vor, wenn die Frau und die Tochter, mit denen du dein Leben geteilt hast, nicht mehr da sind. Paff. Wie bei einem Zaubertrick. Eben noch fährst du mit dem Wagen von einer Party nach Hause, und im nächsten Moment bist du ein Zombie, der auf dem Randstreifen nach Hause wankt. Nur dass du kein Zuhause mehr hast. Keine Frau. Keine Tochter. Sie wurden aus deiner Existenz gelöscht. Ohne Abschiedsbrief. Ohne Andenken. Ohne Bilder. Ohne irgendetwas, das dich daran erinnert, dass es sie mal gab. Manchmal fragst du dich, ob sie je gelebt haben. Manchmal fragst du dich, ob du das nicht nur geträumt hast, bis du in diesem Alptraum wieder zu dir gekommen bist.
Ich habe nie Rachels Leiche gesehen, und ich habe ihre Beerdigung verpasst, darum muss ich meinen Eltern glauben, dass sie in bester Lage auf dem Soquel Cemetery zwei Meter unter ihrem Grabstein begraben liegt. Aber immerhin habe ich einen Grabstein. Eine Gedenktafel. Einen handfesten Beweis, dass es Rachel mal gegeben hat, dass sie beerdigt wurde, während ich vorübergehend tot war.
In Annies Fall hingegen gibt es keinerlei Beweise. Nichts Handfestes. Nichts, auf das ich mit dem Finger zeigen und bei dessen Anblick ich mit Gewissheit sagen könnte, was mit ihr passiert ist. Dass sie noch lebt. Dass es sie je gegeben hat.
Während mir all das durch den Kopf geht, sehe ich mich einem Mädchen gegenüber, ungefähr in Annies Alter, das mich aus großen blauen Augen anstarrt; an ihrem neugierigen Gesicht baumeln zwei blonde Zöpfe herab, genau wie bei Annie. Sie trägt eine rosa Hose, rosa Stiefel und ein rosafarbenes Sweatshirt mit Reißverschluss und Kapuze, die sie allerdings nicht aufhat. Um das kleine Mädchen herum und dahinter, zehn Meter von der Parkbank entfernt, auf der ich sitze, hat sich ein gutes Dutzend Erwachsener versammelt und brüllt und schreit, entsetzt von meinem Anblick. Im Gegensatz zu dem Mädchen. Sie steht nicht mal einen Meter von mir entfernt, so ruhig wie der Dalai-Lama.
Warum auch nicht? Ich tue niemandem etwas zuleide. Ich bedrohe niemanden. Ich hocke einfach auf einer Parkbank mit meiner Schreibtafel um den Hals, auf der in fetten schwarzen Buchstaben die Worte stehen: Zombies sind auch Menschen .
Einige der Erwachsenen schreien mich aus sicherer Entfernung an, drohen mir körperliche Gewalt an, wenn ich
das kleine Mädchen auch nur anfasse. Schon komisch, dass niemand den Mut aufbringt, näher zu treten und den süßen kleinen Fratz vor dem großen bösen Zombie zu retten.
Das kleine Mädchen betrachtet mein Gesicht, blickt hinunter auf das Schild, dann erneut in mein Gesicht, als versuchte sie etwas zu kapieren. Schließlich deutet sie auf meine Brust, auf meine Proklamation der Gleichheit, und sagt: »Stimmt das?«
Ich nicke.
Bevor das Mädchen mir weitere Fragen stellen kann, kommt ihre Mutter wie ein Rugby-Spieler herübergesprintet, schnappt sich ihre Tochter und trägt sie fort, so dass ich alleine im Zehn-Meter-Radius der Sicherheitszone zurückbleibe.
Ich frage mich, wie unsere Begegnung verlaufen wäre, wenn wir mehr Zeit gehabt hätten, bevor ihre Mutter aufgetaucht ist. Ich frage mich, ob sich das kleine Mädchen zu mir gesetzt hätte. Ob ich noch weitere Fragen hätte beantworten können. Ob das irgendetwas bewirkt hätte.
Ich bin mir sicher, dass das kleine Mädchen
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