Anonyme Untote - Eine Zombie-Liebesgeschichte
Augenhöhle.
Sie kann so eine verdammte Exhibitionistin sein.
Naomis Gast, Beth, wurde von einem betrunkenen Autofahrer getötet und lebt mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester zusammen. Auf ihrem Gesicht und ihrer Kopfhaut verlaufen kreuz und quer mehrere Nähte, und die linke Seite ihres Schädels ist seit dem Versuch der Ärzte, die Blutung in ihrem Gehirn zu stoppen, kahlgeschoren.
»Wie ist es, bei seiner eigenen Familie zu leben?«, fragt Helen.
»Meine Mutter weint sehr viel«, sagt Beth und fummelt nervös an dem Haar auf der rechten Seite ihres Kopfes herum. »Mein Dad verbringt jetzt die meiste Zeit auf der Arbeit. Und meine Schwester lädt ihre Freundinnen ein, um mich ihnen vorzuführen.«
Bei Beths Anblick muss ich unwillkürlich an Annie denken, und ich frage mich, was schlimmer ist: Wenn man eine Tochter hat, die ein Zombie ist, oder wenn man als Zombie eine Tochter hat, die ein Atmer ist. Wahrscheinlich ist beides nicht besonders toll, aber wenn ich derjenige wäre, der noch lebt, dürfte ich meine Tochter wenigstens aufziehen.
Die meiste Zeit bemühe ich mich, nicht an Annie zu denken und daran, was sie wohl gerade macht, daran, wie sehr sie mir fehlt. Es ist nicht normal, wenn ein Vater versucht, seine Tochter zu vergessen, doch wenn man in keiner Form mit ihr kommunizieren darf, führen die Gedanken an sie nur dazu, dass man einen bohrenden Schmerz verspürt, der nie wieder weggeht.
Manchmal, wenn ich sehe, wie andere Kinder spielen oder von der Schule kommen, glaube ich, Annies Stimme oder ihr Lachen zu hören. Ein anderes Mal meine ich den Duft ihrer Haare zu riechen. Sie hat immer ein Shampoo mit Kiwi-Aroma benutzt.
Als Beth mit ihrer Geschichte fertig ist, beugt Jerry sich zu mir herüber: »Die ist absolut scharf, Alter.«
»Sie ist erst sechzehn, Jerry«, flüstert Rita.
Außerdem ist die eine Seite ihres Schädels kahlrasiert. Und ihr Gesicht ist mit Nähten übersät.
»Na und?«, sagt Jerry. »Sie ist ein absolut scharfes sechzehnjähriges Mädchen.«
Jerry nimmt einen Schluck von seiner Grapefruit-Limonade, langt in seine Gesäßtasche, zieht ein Döschen mit Pfefferminzbonbons hervor und schnippt sich zwei davon in den Mund.
»Extra stark«, sagt er mit einem Grinsen.
Sie müssten mehr als nur extra sein, um Jerrys Atem zu erfrischen.
Als Nächstes erzählt Helen, wie sie bei dem Versuch, den häuslichen Streit eines ihrer Patienten zu schlichten, eine Kugel in die Brust gekriegt hat. Als sie fertig ist, wendet sie sich ihrem Gast zu; in seinem Brooks-Brothers’-Anzug und seiner Armani-Krawatte wirkt er ein wenig deplatziert.
Vielleicht liegt es daran, dass ich neulich einen Schnellkurs in Grundierungen, Abdeckfarben und Puder hatte, aber ich weiß, dass er geschminkt ist.
»Ich habe Ian vor über einem Jahr kennengelernt, als ich noch ein Atmer war«, sagt Helen. »Bis letzte Woche wusste ich nicht, dass er einer von uns ist. Ihr werdet seine Geschichte wahrscheinlich etwas ungewöhnlich finden. Und vielleicht auch ermutigend.«
Ian, ein zweiunddreißigjähriger Anwalt, ist eines Samstagnachts in einer Gasse betrunken mit dem Kopf auf den Asphalt geknallt, hat dabei das Bewusstsein verloren und ist an seiner eigenen Kotze erstickt.
Ja. Ermutigend. Absolut.
»Sechs Stunden später«, sagt Ian, »bin ich wieder aufgewacht, ohne zu merken, dass etwas nicht stimmt, bis ich zu Hause unter die Dusche gestiegen bin. Ich fühlte mich irgendwie unwohl. Nicht unbedingt krank, eher so, als wäre in meinem Innern irgendwas nicht in Ordnung. Außerdem hab ich gestunken, und der Geruch ließ sich nicht vertreiben. Ich habe bestimmt ein ganzes Stück Seife und eine halbe Flasche Shampoo verbraucht, ohne Erfolg.«
»Und wann bis du dahintergekommen, dass du nicht mehr lebst?«, fragt Helen.
»Na ja«, sagt Ian, »nachdem ich geduscht hatte und vor dem Spiegel stand, habe ich bemerkt, dass meine Haut ziemlich grau war, außerdem ist das Glas von meinem
Atem nicht beschlagen. Ich habe immer wieder ein- und ausgeatmet. Doch nichts. Dann habe ich meinen Puls gefühlt. Und in dem Moment verlor ich zum zweiten Mal das Bewusstsein.«
Jerry bricht in schallendes Gelächter aus. Niemand stimmt mit ein.
»Als ich wieder zu mir kam«, sagt Ian, »dachte ich, ich hätte nur schlecht geträumt. Ich tot? Wie sollte das gehen? Doch schließlich wurde mir klar, dass genau das passiert war, und ich habe den Badezimmerspiegel zertrümmert, den Klodeckel und mehrere Bodenfliesen. Dann
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