Anonyme Untote - Eine Zombie-Liebesgeschichte
Unterhaltung in Gang zu bringen. Sie hockt auf ihrem Stuhl und kämpft gegen die Tränen an, beißt sich auf die Unterlippe, während sie in der Füllung und den grünen Bohnen auf ihrem Teller herumstochert.
Offensichtlich sind meine Eltern nicht in der rechten Feiertagsstimmung.
Dennoch bin ich dankbar, dass ich überhaupt am Tisch essen darf. Es ist das erste Mal, dass meine Eltern mir erlaubt haben, mit ihnen gemeinsam zu essen, seit am dritten Tag nach meiner Rückkehr eine der Nähte in meinem Gesicht aufgeplatzt ist und ein Stück verwestes Fleisch in den selbst gemachten Gazpacho meiner Mutter fiel.
Seitdem hat sie ihn nicht mehr zubereitet.
Glücklicherweise scheinen meine Nähte momentan gut zu halten, besser als ich das nach vier Monaten für möglich gehalten hätte. Und dafür bin ich ebenfalls dankbar. Ja, ich bin für eine Menge dankbar, für mehr, als ich vor knapp einem Monat gedacht hätte.
Ich bin dankbar für die Selbsthilfegruppe.
Dankbar für Rita.
Dankbar für die Begegnung mit Ray.
Und ich bin dankbar dafür, dass meine Sprache allmählich zurückkehrt.
Nach wie vor nur ansatzweise, doch wenn dein ganzes Vokabular aus einem Grunzen und Kreischen bestanden hat, das Leatherface aus dem Texas Chainsaw Massacre wie einen Stipendiant an der Oxford University erscheinen lässt, ist alles ein Fortschritt.
Außer »I, Ita«, habe ich es geschafft, ein paar weitere Wörter zu formen:
»U is asse us.« (Du siehst klasse aus.)
»A, ite.« (Ja, bitte.)
»Anke.« (Danke.)
Und »I ike ik?« (Wie rieche ich?)
Aus dem Mund eines neun Monate alten Jungen in einem Kinderstuhl, dem der Brei aus dem Mund läuft, mag dieses hervorgestoßene Halb-Englisch bezaubernd klingen. Aus dem Mund einer vierunddreißigjährigen verwesenden Halbleiche, der Kartoffelbrei und Soße vom Kinn tropft … na ja, sagen wir mal so, dafür zückt wahrscheinlich niemand die Videokamera.
Also verdrücke ich wortlos mein Essen und lasse meinen Blick über den Tisch wandern, zu meiner enttäuschten Mutter und meinem vor sich hingrübelnden Vater, zu dem
herrlichen Festtagsessen an diesem stillen, bedrückenden Thanksgiving - bis ich beim Truthahn hängen bleibe, mit seiner aufgeblähten Haut und dem Fleisch, das immer weniger wird. Je länger ich ihn anstarre, desto mehr kann ich mich mit ihm identifizieren, mit ihm mitfühlen, und plötzlich wird mir klar, wie viel wir gemeinsam haben. Sicher, er ist tot und gegart und wird gerade verspeist, aber ist der Unterschied zu mir wirklich so groß?
Während er langsam zerstückelt wird, kommen nach und nach seine Knochen zum Vorschein, und wenn das Fleisch vom Skelett geschnitten wird, kann man die Knorpel und Rippen sehen. Am Ende wird nur noch ein Gerippe übrig bleiben. Und ich frage mich plötzlich: Sind es die Atmer, die mich zerstören? Frisst mich der Verwesungsprozess allmählich auf?
Oder ist es die Erniedrigung, in einer Welt zu bestehen, die von den Lebenden bestimmt wird?
Je länger ich auf den Truthahn starre, desto mehr verspüre ich so etwas wie Nähe zu ihm. Desto mehr betrachte ich ihn als Sinnbild meiner gegenwärtigen Existenz. Desto besser verstehe ich, warum Tom Vegetarier geworden ist.
Bevor mein Vater erneut ein Stück Brust absäbeln oder einen Flügel abreißen kann, strecke ich die Hand aus, packe den Truthahn an den Beinen und zerre ihn von der Servierplatte zu mir herüber.
»Hey«, sagt mein Vater mit vollem Mund und spuckt einige Krümel Füllung über den Tisch. »Was zum Teufel machst du da?«
Eingreifen.
Befreien.
Erlösen.
Such’s dir aus. Ich weiß nur, dass es sich richtig anfühlt.
Auf dem Weg zu mir räumt der Truthahn die Sauciere ab, und ihr Inhalt ergießt sich über die Tischdecke und vermischt sich mit der Cranberry-Soße.
»Verdammt nochmal!«, brüllt mein Vater, lässt Messer und Gabel fallen und greift nach dem Truthahn.
»Also wirklich, Liebling«, sagt meine Mutter, fast froh, dass irgendeine Art von Interaktion stattfindet. »Wenn du noch etwas haben möchtest, brauchst du es doch nur zu sagen.«
Bevor mein Vater den anderen Schenkel packen kann, wuchte ich das 8-Kilo-Tier in meinen Schoß; dabei stoße ich meinen Teller vom Tisch, und er landet auf dem Hartholzbelag, wo er zerbricht. Essen verteilt sich über den Boden.
»Andy, wirklich!«, sagt meine Mutter. »Das sind meine besten Teller.«
»Gib mir sofort den Truthahn«, keucht mein Vater, der inzwischen aufgesprungen ist und um den Tisch gerannt kommt; er
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