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Anonyme Untote - Eine Zombie-Liebesgeschichte

Anonyme Untote - Eine Zombie-Liebesgeschichte

Titel: Anonyme Untote - Eine Zombie-Liebesgeschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S G Browne
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hat den Kopf vorgeschoben, wie immer, wenn er es ernst meint. Das hat mir als Kind eine Scheißangst eingejagt. Doch ich bin kein Kind mehr. Und ich werde meinen Truthahn nicht hergeben.
    Ich rutsche mit dem Stuhl zurück und stehe auf, selbstbewusst wie seit Monaten nicht mehr, und drücke die Feiertagsverkörperung meiner selbst mit dem rechten Arm gegen meinen Bauch, während ich rückwärts Richtung Kellertür wanke. Kurz bevor mein Vater mich erreicht, rutscht er in meinem Kartoffelbrei aus und landet unsanft auf dem Boden; dabei knallt er mit dem Ellbogen gegen den Tisch.
    »Alles in Ordnung, Schatz?«, fragt meine Mom, die immer noch auf ihrem Stuhl sitzt, als wäre das hier alles völlig normal.

    Mein Vater antwortet nicht, sondern rappelt sich auf und stürmt erneut auf mich zu. Ich habe die Tür des Weinkellers fast erreicht, als er mich einholt und nach dem freiliegenden Schenkel greift. Ich glaube nicht, dass er den Truthahn noch essen möchte. Er möchte ihn nur nicht mir überlassen.
    Einerseits frage ich mich, was zum Geier ich damit erreichen wollte. Warum ich dachte, das könnte meine Situation verbessern. Andererseits habe ich mehr Spaß als an all den letzten Thanksgiving-Essen, also fange ich an zu lachen.
    »Das ist nicht witzig«, knurrt mein Vater und versucht, mir den Truthahn zu entreißen, doch ich halte das andere Bein mit der rechten Hand fest umklammert und lasse nicht los. Über die Schulter meines Vaters hinweg kann ich sehen, wie meine Mutter meinen zerbrochenen Teller zusammenfegt, während sie sich darüber beklagt, dass wir beide das wunderbare Essen ruiniert haben.
    Mein Vater und ich kämpfen weiter um den Truthahn, jeder von uns zieht an einem Schenkel, und die Haut und das Fleisch in unseren Händen löst sich langsam von den Knochen. Was mich an den Häutungsvorgang erinnert.
    In der ersten Phase des Verwesungsprozesses dringt die Flüssigkeit aus den Zellen, in denen die Enzyme zerstört wurden, zwischen die verschiedenen Hautschichten, worauf diese sich anfangen zu lockern. Manchmal löst sich die komplette Haut einer Hand oder eines Fußes. Mit fortschreitendem Verlauf verliert der Körper dann riesige Hautfetzen.
    So wie das Stück von dem Schenkel, den mein Vater gerade festhält.
    Wäre mir der Appetit auf Truthahn nicht längst vergangen, dann jetzt ganz bestimmt.

    Einen Moment später bricht der Schenkel, den mein Vater umklammert, ab, und er taumelt zurück, gegen die antike schwarze Vitrine, in der meine Mutter ihre Teetassen-Sammlung aufbewahrt. Mit einem ohrenbetäubenden Getöse, dem Geräusch von zerberstendem Holz und splitterndem Porzellan, fällt der Schrank hintenüber, während ich mit dem Truthahn in meinem Schoß lachend zu Boden gehe und meine Mutter in Tränen ausbricht.
    Ganz wie in alten Zeiten.

KAPITEL 29
    Um dem unheilvollen Thanksgiving-Essen zu entfliehen, sind Mom und Dad ins Seascape Resort gefahren, wo sie mit den Putmans Tennis spielen, und vor dem frühen Nachmittag werden sie nicht zurück sein. Das heißt, ich habe drei Stunden Zeit, um meine neu erworbenen Fähigkeiten zu erproben, ohne mich dafür zu schämen oder den Unmut meines Vaters zu provozieren.
    Wenn meine Eltern außer Haus sind, schließen sie stets die Tür zum Weinkeller ab, damit ich die Wohnung nicht verpeste; das verleiht meinem ständigen Rauf und Runter auf der Treppe heute etwas Sinnloses, Sisyphushaftes. Doch statt mich verdammt zu fühlen, fühle ich mich bestärkt. Als würde ich erneut laufen lernen.
    Ich habe festgestellt, dass es mir zunehmend leichter fällt, die Treppe zu erklimmen.
    Als ich den oberen Absatz erreiche und mich umdrehe, um wieder hinunterzustapfen, brabbele ich immer wieder diesen einen Satz vor mich hin: »Trautes Heim, Glück allein.«
    Ich beschäftige mich jetzt seit fast einer Stunde damit. Zunächst hörte es sich wie der Refrain von »Old McDonald« an: »Aue ei ü a ei.«
    Doch nach einer Weile nahmen die Wörter allmählich Gestalt an, als würde ich sie durch das unablässige Wiederholen
der Silben zu verständlichen Klängen formen. Inzwischen spreche ich die Worte, bis auf ein paar Buchstaben, nahezu perfekt aus: »Dautes Ei, Lück allei.«
    Ich war nicht mehr so aufgeregt, seit, tja, seit ich händchenhaltend nach Soquel Village geschlendert bin. Ich möchte das mit jemandem teilen, diesen Moment des Triumphes, der Selbstverwirklichung. Doch meine einzige Gesellschaft sind ein 2001er Dominus Cabernet und ein halbleeres Glas von Rays

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