Ans Glueck koennte ich mich gewoehnen
gutartig. Wenn sie jedoch nicht entfernt werden, können sie genauso gefährlich werden wie bösartige Tumore. Da diese Meningiome wachsen, können sie mit der Zeit so einen Druck auf das Hirngewebe ausüben, dass dieses schließlich abstirbt. Wenn Elliot überleben wollte, musste er operiert werden.
Elliot wurde operiert. Dabei wurde aber nicht nur der Tumor entfernt, sondern auch das Gewebe, das durch den Tumor in Mitleidenschaft gezogen wurde: Gewebe des Stirnlappens. Medizinisch gesehen war die Operation ein voller Erfolg. Aber was war mit Elliots Persönlichkeit passiert? Schon am Morgen hatte Elliot keine Lust mehr, überhaupt aufzustehen. Am Arbeitsplatz angelangt, war es ihm nicht mehr möglich, seine Arbeitszeit einzuteilen oder auch nur Zeitpläne in irgendeiner Art und Weise einzuhalten. Außerdem war er nicht mehr fähig, seine Arbeit zu sortieren. Was war wichtig? Was war dringend? Solche Fragen konnte er nicht mehr beantworten und schon gar nicht mehr danach handeln. Seine Fachkenntnisse schienen jedoch noch genauso gut zu sein wie vor der Operation: Einzelne Tätigkeiten konnte er noch genauso gut ausführen wie vorher.
Das reichte jedoch nicht aus, um seine Stelle zu halten. Elliot wurde gekündigt. Es folgten weitere Stellen, aber auch dort wurde ihm gekündigt. Jetzt veränderte sich sein Leben endgültig. Er stürzte sich in waghalsige Geschäfte, traf seine geschäftlichen und finanziellen Entscheidungen sehr kurzsichtig, sodass er seine gesamten Ersparnisse verlor. Seine Frau ließ sich von ihm scheiden. Elliot bekam letztendlich Rente.
Damásio erklärt, dass Elliot zwar körperlich gesund und auch in den meisten geistigen Fertigkeiten unbeeinträchtigt war, er aber durch eine neurologische Störung nicht mehr fähig war, Entscheidungen zu treffen. Die Schädigung eines bestimmten Gehirnabschnitts führte dazu, dass sich seine Persönlichkeit dramatisch veränderte. Elliot konnte keine Schlüsse mehr ziehen, keine Entscheidungen mehr treffen; er konnte schlichtweg nicht mehr am sozialen Leben teilnehmen. Elliots rechter und linker Stirnlappen waren durch die Operation geschädigt worden, wobei die Schädigung im rechten weit größer war als die im linken. Damit wurden die Teile des Gehirns beschädigt, die für die zugrunde liegenden Denkprozesse bei Entscheidungsfindungen zuständig sind. Die Schädigung dieser Hirnregionen hatte keinerlei Einfluss auf den Intelligenzquotienten. Die Schwierigkeiten, mit denen Elliot seit der Operation zu kämpfen hatte, waren keine intellektuellen Probleme, sondern emotionale und psychische Anpassungsschwierigkeiten. Da seelische Schwierigkeiten diagnostiziert wurden, verordnete man Elliot Psychotherapiestunden. Leider erfolglos!
Aufgrund der Tatsache, dass sämtliche Intelligenztests bei Elliot sehr gut ausfielen und keine Veränderung gegenüber seinem IQ vor der Operation darstellten, richtete Damásio seinen Fokus auf etwas anderes, auf Emotionen. Ihm fiel auf, dass Elliot seine sehr tragische Lebensgeschichte sehr distanziert erzählte. Er beschrieb die Vorgänge so leidenschaftslos, als ob er über die Zutaten eines Backrezeptes berichten würde. Wie ein völlig unbeteiligter Zuschauer sprach er ganz ruhig und ohne Groll. Seit seiner Krankheit war er weder traurig, noch ungeduldig, noch zornig.
Selbst als Damásio ihm Bilder von Erdbeben oder Überschwemmungen mit leidenden Menschen zeigte, reagierte Elliot emotionslos. Elliot selbst stellte schließlich fest, dass seine Gefühle sich seit der Operation verändert hatten. Er bemerkte, dass Themen, die ihn vorher erregt hatten, ihn jetzt völlig kalt ließen.
Damásio kategorisierte Elliots Problem als »Wissen ohne Fühlen«. Elliot hatte auch nach der Operation soziales Wissen: Im Labortest konnte er auch einfache moralische Urteile so treffen, wie es die meisten Menschen in derselben Situation tun würden. Er hatte demnach keinen unzulänglichen Zugriff zu Wissen und logischem Denken. Sein Defekt schien in der Spätphase des schlussfolgernden Denkens zu liegen. Denn genau an den Punkten, an denen Entscheidungen getroffen werden mussten, traten seine Defizite zutage. Denn dann, wenn wir Entscheidungen treffen müssen, eröffnet sich uns eine Vielzahl von Entscheidungsmöglichkeiten, unter denen wir den richtigen Weg auswählen müssen. Da Elliots Denken gefühllos war, war er nicht in der Lage, die unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten zu bewerten. Durch die unbewusste Bewertung von
Weitere Kostenlose Bücher