Ansichten eines Hausschweins - Neue Geschichten ueber alte Probleme
zahlreichen jungen Frauen mit den Kopftüchern.
Sie fragte, ob ich denn wirklich nicht Bescheid wisse. Das Kopftuch sei bei Mädchen inzwischen das beliebteste Provokationsinstrument, auch bei Mädchen ohne Migrationshintergrund. Das Kopftuch entfalte bei den Eltern und den Lehrern eine viel radikalere Wirkung als, sagen wir mal, ein Tattoo mit dem Porträt von Dieter Bohlen oder ein Irokesenhaarschnitt. Man müsse sich nur einmal einen durchschnittlichen Post-68er-Haushalt vorstellen, Vollbild Manufactum, und morgens sitzt die sechzehnjährige Tochter auf einmal mit Kopftuch am Frühstückstisch und verlangt, zwangsweise mit ihrem Cousin verheiratet zu werden.
Da fällt doch die Mutter auf die Knie und fleht ihre Tochter an, sich stattdessen lieber ein Intimpiercing machen zu lassen.
»Islam«, sagte die Freundin, »ist der neue Punk. An den Unis werden es immer mehr.«
Während es aber der deutsche Punk nur zu Campino als öffentlich wahrnehmbarer Identifikationsfigur gebracht hat, besitzen heute schon ein deutscher Parteivorsitzender (Cem Özdemir), einer der besten deutschen Autoren (Feridun Zaimoglu), eine der bekanntesten deutschen Schauspielerinnen (Sibel Kekilli) und einer der wichtigsten deutschen Regisseure (Fatih Akin) muslimische Hintergründe. Falls wir demnächst, wie mein Kollege Broder vorhersagt, eine islamische Republik haben, dann werden sie mich, als einen ihrer ersten Unterstützer und alten Punker, ganz sicher zum Revolutionsrichter machen. Ich werde wie mein Vorbild, der Marquis de Sade, endlich mal all meine Gegner nach Herzenslust freisprechen können.
Über Krieg
Ich mache den Kühlschrank auf. Im Kühlschrank liegen Colaflaschen und Ginger-Ale-Flaschen, grüner Tee, Orangina, die meisten dieser Flaschen sind halb leer oder fast leer. Die liegen da schon seit Tagen!
Zuerst ist eine angebrochene Colaflasche vorhanden. Ganz normal. Dann kommt jemand, öffnet eine neue Flasche, statt die alte leer zu trinken, legt die zweite halb leere Flasche neben die erste halb leere Flasche, dann aber, wieder ein oder zwei Tage später, kommt eine dritte halb leere Flasche dazu.
Das stört mich. Nicht ich habe diese Flaschen halb leer getrunken und, offenbar zur ewigen Ruhe, in den Kühlschrank gelegt, nein, andere haben es getan.
Was mich betrifft, ich trinke meine Weinflaschen immer bis zum letzten Tropfen aus. Auch Milch. Wenn in der Milchtüte ein einziger Hundertstelliter Flüssigkeit übrig ist, dann stelle ich diese Tüte wieder in den Kühlschrank, nur sie allein, hole beim nächsten Mal die Tüte wieder heraus und verwende den Hundertstelliter. Im Grunde brauchte ich dazu eine Pipette. Das ist wahrscheinlich auch krank, oder skurril, aber es ist eben meine eigene, ganz spezielle Form des Irrsinns. Den eigenen Irrsinn findet man immer einleuchtender als den Irrsinn von anderen.
Man müsste alle Flaschen dieser Erde restlos austrinken. Nehmen. Leer trinken. Neu kaufen. Yin und Yang. Eine gesunde Balance. A perfect world, ohne Staatsverschuldung, ohne Bankenkrise. Wenn es schon im Kühlschrank nicht klappt, wo denn dann?
Bei mir hängt es mit dem Krieg zusammen.
Ich bin in einem Kriegsteilnehmerhaushalt aufgewachsen, kein Essen wegwerfen, immer schön aufessen. Das habe ich verinnerlicht. Ich bin ein Kriegsopfer, mit meiner Zwangsneurose. Noch fünfundsechzig Jahre nach Kriegsende bin ich traumatisiert!
Mir ist klar, dass man halb leere oder meinetwegen halb volle Colaflaschen nicht in die Dritte Welt schicken kann, um den Welthunger oder in diesem Fall wohl eher den Weltdurst zu bekämpfen. Gewiss, in Bangladesch wären sie sicher oft froh, wenn sie eine halb volle Cola hätten, auch wenn sie dort natürlich zu warm ist. Aber die Dinge sind komplizierter. Indem der Colaverbrauch in diesem Haushalt hier künstlich in die Höhe getrieben wird, fördert man vielleicht die Konjunktur und sichert Arbeitsplätze.
Womöglich halten wir, nur wir, eine ganze Familie von bolivianischen Cocabauern am Leben, cocapadre, cocamadre y los cocahijos, nur durch das, nach einer oder zwei Wochen, Wegschütten von abgestandener Cola. Während ich durch das sorgfältige, zeitnahe Austrinken jeder einzelnen Weinflasche die deutsche Weinwirtschaft an den Rand des Ruins treibe. Andere Kolumnisten schütten immer die halbe Flasche weg. Seit Jahren predige ich doch: Moralisch richtiges und moralisch falsches Verhalten sind nicht so leicht auseinanderzuhalten, wie naive Geister es sich vorstellen. Oft ist das
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