Anständig essen
Wildbahn erwarten darf«, rief ich wütend. »Hast du schon mal über längere Zeit eine Entenmutter mit ihren Küken beobachtet? Da fehlt jede Woche ein Küken mehr.«
»Unsere Eltern dürfen uns ja auch nicht umbringen, bloß weil sie uns das Leben geschenkt haben«, sagte Jiminy, »ganz egal, was sie uns für eine tolle Kindheit bereitet haben.«
Sie argwöhnte, dass ich am Ende doch alle Hähne behalten würde, womit sie nicht ganz falsch lag. Ehrlich gesagt, hoffte ich gegen jede statistische Wahrscheinlichkeit, dass nicht mehr als ein männliches Küken schlüpfen würde. Womit das Problem natürlich bloß vertagt worden wäre. Spätestens, wenn in der nächsten Generation auch nur ein Drittel der neuen Hühner brüten wollte, würde ich wieder in der Zwickmühle sitzen. Entweder musste ich sie dann am Ausüben ihrer natürlichen Triebe hindern oder ich musste mir eine größere Gefriertruhe anschaffen. Zum Glück ersparte Rinde mirdamals diese Gewissensentscheidungen. Sie brütete so schlampig, dass nur zwei Küken schlüpften, beide weiblich.
Eines davon war der Piepsi, der jetzt im Meerschweinchenkäfig hockt und mit schief gelegtem Kopf die schlafenden Kater betrachtet. Dem Piepsi scheint die Käfighaltung gar nicht so übel zu bekommen. Sein Kamm, der im kalten Hühnerstall ganz bleich geworden war, leuchtet jetzt hellrot und er legt sogar wieder Eier. Ich habe ihn ins Wohnzimmer geholt, weil der Piepsi Gesellschaft anscheinend schätzt. Im Flur, wo er zuerst stand, war einfach nicht genug los. Dafür riecht es jetzt im Wohnzimmer wie in einer Zoohandlung.
»Allerdings«, hat Jiminy gerade gesagt. Und das regt mich auf.
»Wie – allerdings? Was soll das heißen? Findest du es wirklich besser, wenn ein Tier gar nicht erst auf die Welt kommt, nur weil es irgendwann geschlachtet werden soll?«
»Ja. Die sollen in Freiheit leben, da, wo sie hingehören, und sonst nirgends.« Jiminy verschränkt die Arme.
»Das ist ja ein Riesenirrtum«, rufe ich, »diese Vorstellung, die frei lebenden Tiere hätten es gut. Die werden gar nicht alt genug, um es gut zu haben. Sieben von acht kleinen Elchen sterben, bevor sie auch nur ein Jahr alt sind. Du musst dich mal von der Illusion lösen, dass es in freier Wildbahn auch nur im Geringsten anständig zuginge. Alles voller blutgieriger Bestien, die friedliche, großäugige Weidetiere fressen. Selbst die Jungen von Raubtieren werden von anderen Raubtieren gefressen oder verhungern oder kommen sonst wie um. Die Hälfte aller Tigerjungen sterben schon in den ersten drei Monaten.«
»Das ist Natur«, sagt Jiminy.
»Ach so«, rufe ich gallig, »das ist Natur! Na, dann ist es natürlich in Ordnung! Dann macht es ja nichts, wenn so ein kleiner Tiger elend verhungert oder in Stücke gerissen wird! Dann macht es ja nichts, wenn eine Grundel bei lebendigem Leib von einer Seeanemone verdaut wird oder wenn Bulli Krebs kriegt! Ist ja Natur!«
»Was ist eine Grundel?«
»Ein Fisch! Fische sind besonders schlimm dran – beim Kabeljau wird nur ein Tausendstel der Brut erwachsen. Natur, das heißt Leben im Überfluss produzieren, und einen Großteil der Individuen schon nach wenigen Tagen auf grauenhafte und qualvolle Weise wieder vernichten. Natur ist was für Leute, die auf Blutbäder stehen.«
»Na, dann ist ja alles bestens. Dann kannst du ja auch deine Grillhähnchenpfanne wieder mit gutem Gewissen essen«, schnappt Jiminy.
»Eben nicht! Das Schlimme, das Verwerfliche an der Massentierhaltung ist nämlich nicht, dass die Tiere es dort nicht so schön haben wie in freier Wildbahn, sondern dass wir es tatsächlich fertiggebracht haben, Tieren ein noch schrecklicheres Leben zu bereiten, als sie es sowieso schon in Freiheit gehabt hätten. Für ein Massentier wäre es tatsächlich besser, es wäre nie geboren.«
Jiminy sieht mich kritisch an.
»Gute Tierhaltung, das könnte doch theoretisch auch ein Geschenk an das Tier sein«, fahre ich fort. »Ein Bio-Rind, das mit anderen Rindern auf der Weide steht und zwei Jahre alt werden darf, wird ja nicht um ein 30jähriges Leben in Freiheit betrogen, sondern ihm werden – rein statistisch gesehen – anderthalb Jahre geschenkt, und zwar im besten Fall parasitenfrei, angstfrei, ohne Hunger und im Winter vielleicht noch mit einem Dach über dem Kopf. Das ist doch nicht nichts!«
»Glaubst du etwa, der Lebenszweck von Tieren besteht darin, möglichst wenig Gefahren ausgesetzt zu sein? Denkst du, die wollen verbeamtet werden?«, sagt
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