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Anständig essen

Anständig essen

Titel: Anständig essen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Duve
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über deinen Schatten springen?«, fragt meine Mutter.
    »Hier geht es nicht um meinen Schatten, sondern um Ausbeutung und Grausamkeit«, sage ich gereizt. »Wo kommt denn die Butter her? Dafür müssen Kühe die ganze Zeit Milch geben, und nach zwei, drei Jahren werden sie geschlachtet. Die Kälber werden ihnen direkt nach der Geburt weggenommen und nach wenigen Wochen oder Monaten ebenfalls geschlachtet. Das muss man sich mal vorstellen: einer Mutter das Kind wegnehmen und umbringen, um dann der Mutter die Milch abzuzapfen, die eigentlich für das Kind gedacht war. Das ist doch widerlich!«
    »Ich muss mal eben spritzen gehen«, sagt meine Mutter. Sie ist Diabetikerin. Ihre Mutter war Diabetikerin. Ihre Schwester war Diabetikerin. Ich weiß, welches Schicksal auf mich wartet, wenn ich mein Übergewicht nicht in den Griff kriege. Bisher ist meine Mutter mit Tabletten ausgekommen. Dass sie jetzt Insulin spritzen muss, ist neu. Das Spritzbesteck führt sie in einer kleinen goldenen Tasche mit sich wie ein kultivierter Heroinabhängiger. »Der goldene Schuss«, muss ich unwillkürlich denken.
    »Milchprodukte haben übrigens auch etwas mit Diabetes zu tun«, rufe ich ihr hinterher und bereue es sofort. Das wäre jetzt nicht nötig gewesen. Kaum bin ich eine halbe Stunde mit meinen Eltern zusammen, benehme ich mich wieder wie mit fünfzehn.
    »Normalerweise würde eine Kuh nicht mehr als zehn Liter Milch geben«, doziere ich vor meinem Vater. »Mehr braucht ein Kalb auch nicht. Aber die heutigen Hochleistungskühe geben das Dreifache, teilweise das Fünffache oder noch mehr. Das laugt die natürlich völlig aus und macht sie krank. Euterentzündungen, Magenbeschwerden, Knochenprobleme … – Kühe gehören zu den am brutalsten ausgebeuteten Geschöpfen.«
    Mein Vater sieht von seiner Speisekarte hoch und mich über seine Lesebrille gequält an. Auch diesen Blick kenne ich noch aus meiner Jugendzeit.
    Als meine Mutter zurückkommt, erkläre ich gerade dem Kellner, was alles nicht in dem Nudelgericht drin sein darf:
    »Keine Butter, keine Sahne, kein Käse, keine Milch, kein Honig. Und fragen Sie bitte den Koch, ob die Schupfnudeln mit Ei gemacht sind, dann kann ich die nämlich sowieso nicht essen.«
    Meiner Mutter ist es sichtlich unangenehm, wie ich den Kellner in Beschlag nehme und Bedingungen formuliere, statt einfach ein Gericht zu bestellen.
    »Honig darfst du auch nicht essen?«, fragt sie verzagt.
    »Das sind gestohlene Güter«, sage ich streng. »Da schuften Tausende von Bienen wochen- und monatelang. Die fliegen mehr als 80 000 Kilometer und besuchen mehr als zwei Millionen Blumen, um ein einziges Pfund Honig zusammenzutragen. Und dann steckst du das Messer ins Honigglas und schmierst dir mal eben den Wochenlohn von mehreren Tausend Arbeiterinnen aufs Brot … oder von mehreren Hundert … wenigstens. Findest du das okay?«
    »Merken die das denn überhaupt?«, fragt meine Mutter.
    »Das ist doch völlig egal! Du würdest doch auch nicht in die Kasse von eurem Skatklub greifen, bloß weil da alle längst den Überblick verloren haben und sowieso keiner mehr weiß, wie viel drin ist. Diebstahl wird doch nicht dadurch moralischer, dass es keiner merkt.«
    »Und Schinken«, fragt meine Mutter, »darfst du denn wenigstens mal ein Schinkenbrot essen?«
    Mein Vater sieht stumm auf seinen Teller.
    Ein Abweichen vom Gewohnten ist natürlich immer mit inneren Spannungen verbunden. Aber vegan zu leben muss nicht Verzicht heißen – sagen die Veganer. Vielmehr bedeute es, bewusst zu genießen und neue Alternativen zu entdecken. Für mich bedeutet vegan zu leben vorerst, dass ich Stunden in Supermärkten verbringe, vor den Regalen stehe und Zutatenlisten lese, auf denen mit schöner Regelmäßigkeit als letzte von 27 ansonsten völlig veganen Inhaltsstoffen wie Invertzuckersirup, Maisstärke, Säuerungsmittel E334, Soja-Lecithin, Reismehl, Natriumhydrogencarbonat und Kakaobutter doch noch Milchzucker oder Volleipulver oder Gelatine aufgeführt ist. Kann ich also wieder nicht kaufen. Eine Haribo-Tüte nach der anderen lese ich mir durch. Aber wenn ausnahmsweise tatsächlich mal keine Gelatine und kein Milchpulver drin sind, steht am Schluss garantiert: »getrennt mit Bienenwachs«. Und ich beklau ja jetzt keine Bienen mehr. Haribo hat sich also vorerst erledigt.
    Das Schlimme ist, dass ich vor drei Wochen auch noch eine Lesebrille verschrieben bekommen habe. Kurzsichtig war ich schon immer. Wie ein Maulwurf. Starke

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