Anständig essen
Hornhautverkrümmung und fast 10 Dioptrien auf beiden Augen. Aber lesen konnte ich bis vor Kurzem noch wie ein Luchs. (Ein alphabetisierter Luchs.) Zur nervenaufreibenden Lektüre der Inhaltsstoffe kommt jetzt also auch noch das seniorenhafte Gebaren des Brillenwechsels. Das ist nicht nur eine schwere narzisstische Kränkung, sondern erinnert mich auch jedes Mal daran, dass ich wie alle anderen Lebewesen der Sterblichkeit unterworfen bin. Die ersten Verschleißteile geben bereits den Geist auf. Erst kommt die Lesebrille, dann die Kunststoffhüfte und dann lohnt es irgendwann nicht mehr.
Weil ich keine Lust habe, zum achtzehnten Mal einen Brillenwechsel vorzunehmen, entscheide ich mich mal wieder für eine Packung Miracoli. Halt stopp, was tue ich da eigentlich? Miracoli ist selbstverständlich nicht vegan. Wegen der Tüte mit dem mumifizierten Parmesan. Geht also auch nicht mehr. Miracoli wieder zurück. Ich kaufe eine Packung Spaghetti (ohne Ei) und dann setze ich meine normale Brille ab und wieder die Lesebrille auf und lese mir die Zutatenliste einer Bio-Nudelsoße durch. Genehmigt. Immerhin: In der Obst-Abteilung von Kaufland gibt es die ersten Pfirsiche. Das Pfund für 1,29 Euro. Unglaublich.
Jiminy hatte sich ja entschlossen, die zwei Monate mit mir vegan zu leben. Aus Solidarität. Ich habe sie allerdings in Verdacht, dass es auch ein bisschen darum geht, ihren moralischen Vorsprung nicht aufzugeben. Trotzdem ist es natürlich schön, seinen Sojajoghurt und sein Tofuschnitzel mit jemandem teilen zu können. Ich biete ihr einen Pfirsich an.
»Der ist doch wieder um den halben Erdball geflogen«, mault sie.
»Ja, schlimm«, sage ich. »aber stell dir nur vor: Pfirsiche im Mai – was für ein Luxus!«
Jiminy verschränkt die Arme vor der Brust.
»Dann eben nicht.« Ich beiße in einen Pfirsich.
»Komisch, dass sich nie jemand über den langen Transportweg von Bananen aufregt«, sage ich. »Bei Bananen scheint das irgendwie in Ordnung zu sein, dass die erst mal über die sieben Meere tuckern müssen, bevor sie hier ankommen.«
Jiminy sieht mich abschätzend an. Ich kaue und schlucke, entsorge den Kern und wasche mir die Hände. Und weil Jiminy mich immer noch ansieht, esse ichgleich noch einen Pfirsich und wasche mir noch einmal die Hände.
»Schmeckt’s?«, fragt Jiminy
»Nee«, sage ich. »Schmeckt nicht!«
Na gut, ich habe Pfirsiche gegessen. Es waren zweifelsohne Pfirsiche, sie sahen genauso aus, aber sie schmeckten nicht wie Pfirsiche. Auch nicht annähernd. Eigentlich schmeckten sie noch nicht einmal wie etwas Essbares, sondern wie feuchte Sägespäne.
Ich lege die Pfirsiche aufs Fensterbrett. Nach einer Woche sind sie größtenteils vergammelt, und die unvergammelten Stellen schmecken ein bisschen wie Pfirsich. Die Preisgestaltung der großen, billigen Supermärkte wiegt uns in der Illusion, wir könnten uns alles zu essen leisten, was immer wir haben wollen und wann wir es haben wollen. Nur kriegen wir für unser Geld Obst und Gemüse, das nicht schmeckt, Fertiggerichte, die schmecken, aber voller Chemie sind, und Fleisch, das unter Bedingungen hergestellt wurde, das uns zu Mittätern macht.
Der Mai wird kalt und nass. Sintflutartige Regenfälle – mehr als 70 l pro qm – setzen große Teile Mallorcas unter Wasser. Bei uns ist es auch nicht viel besser.
»Das bleibt jetzt den ganzen Sommer so«, unkt Jiminy. »Ich weiß das aus der Zeit, als ich noch im Freiluftkino gearbeitet habe. Wenn der Mai so anfängt, dann wird die ganze Saison schlecht. Das regnet jetzt bis August durch.«
Ich nutze das schlechte Wetter, um mit Stift und Notizblock von Zimmer zu Zimmer zu gehen und mir zu überlegen, welche Gegenstände ich aussortieren muss. Wer sich der Tiere wegen für die vegetarische Ernährung entschieden hat und über logisches Denkvermögen verfügt, wird sich irgendwann fragen, wieso er eigentlich noch Schuhe aus Leder trägt. Falls er sich die Frage nicht selber stellt, wird er garantiert von einem Lederschuhe tragenden Fleischesser damit konfrontiert werden: »Das ist doch inkonsequent.«
Natürlich macht es für die betroffenen Tiere keinen Unterschied, ob sie getötet werden, um auf dem Teller zu landen oder um zu Gürteln, Schuhen, Taschen oder einer Jacke verarbeitet zu werden. Allerdings, so könnte man dem konsequenten Fleischesser antworten, muss man bei 3,5 Millionen Rindern und 56 Millionen Schweinen, die jedes Jahr in Deutschland gegessen werden, wohl kaum noch weitere Tiere
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