Antarktis 2020
Sokolov behauptete, er trüge einen Teil der Schuld, wenn von einer Schuld überhaupt die Rede sein könne, und er sei außerdem der unmittelbare Vorgesetzte Delands, deshalb müsse er dabeisein.
Die Leiterin der Abteilung, Kollegin Knatel, zeigte sich ob dieses starken Aufgebotes leicht irritiert. Die Mitglieder ihres Leitungskollektivs blieben sehr zurückhaltend, und es entstand der Eindruck, daß sie nicht voll hinter ihrer Chefin standen.
Thomas gab sich besonnen. Er war sich bewußt, einen Disziplinarverstoß begangen zu haben. Aber vom Gewissen her fühlte er sich unbelastet: Aïfe hatte wenige Tage nach ihrer Rückkehr eine Tätigkeit als Dolmetscher bei der Kommission aufgenommen, der die Umsiedlung der Einwohner Achourats oblag. Sie und René Tours, die Zuweisung für eine Wohnung im Bereich des Camp 4, der zukünftigen Stadt Kaossen, bereits in der Tasche, waren fest entschlossen, zusammenzuleben.
Für Aïfes Eltern zeichnete sich ebenfalls eine befriedigende Tätigkeit ab, eine Tätigkeit, die einem arbeitsungewohnten Tuareg zumutbar war und die von Ben Goslah mit Würde, aber auch mit Freude übernommen wurde: Er und andere ehemalige Einwohner Achourats wirkten bei der Gestaltung eines großen Kulturparks mit, der neben der einheimischen Flora und Fauna Oasenkolorit vermitteln sollte. Dort würden dann die Kinder auf Kamelen reiten und die Touristen einen Einblick in die historische Entwicklung dieses Gebietes erhalten können.
In der Gewißheit, mit dem Disziplinverstoß eine nützliche Tat vollbracht zu haben, nahm Thomas Monig den öffentlichen Tadel hin, den ihm die Kollegin Knatel aussprach. Er beruhigte sofort Pjotr, der protestieren wollte. Was ihn mehr wurmte, war die Andeutung der Kollegin Knatel, daß sie es bedauere, Monigs Praktikumsakte einen weiteren unvorteilhaften Eintrag hinzufügen zu müssen. Sie hatte »weiteren« gesagt. Sicher meinte sie die Sache in TITANGORA. Thomas hatte nicht etwa gehofft, daß Lewrow seine Ankündigung nicht wahrgemacht habe. Aber daß Kollegin Knatel seine damalige Haltung mit der heutigen gleichsetzte, schmerzte ein wenig.
Thomas lächelte. Selbst diese Tatsache entfachte in ihm nicht das Gefühl, daß sich wieder einmal irgendwer oder irgendwas gegen ihn verschworen hätte, ein Gefühl, daß er zu gut kannte, das ihm manche unerfreuliche Stunde bereitet, aber nie zu etwas geführt hatte. Man sollte sich nicht so wichtig nehmen. Was zählt, ist die Leistung. Und die wurde gewürdigt, na also!
Thomas brach sein Grübeln ab, und, auch ein Gegensatz zu früher, diese Gedanken ließen sich verscheuchen.
Es war noch früher Vormittag, als sie das Gebäude, in dem sich die Abteilung GEOMESS befand, verließen.
Die Freunde meinten, Thomas trösten zu müssen. Sie schimpften auf die Knatel, der sie Herzlosigkeit und Verknöcherung vorwarfen. René, dem die Bestrafung Monigs am meisten zu schaffen machte, sagte immer wieder, daß er es nicht begriffe…
Wenngleich die Anteilnahme der Freunde ihm wohltat, eben weil sie von einer echten Freundschaft zeugte, einer Freundschaft, die aus gemeinsamem Erleben, aus der gemeinsamen Arbeit entstanden war, belustigte sie ihn plötzlich ein wenig.
Er empfand diese Anteilnahme verschwendet, weil unnötig; er brauchte sie nicht, zumindest nicht im Zusammenhang mit dieser Disziplinarmaßnahme.
Thomas hatte zu tun, sich aus der freundschaftlichen Runde zu entfernen. Er mußte immer wieder versichern, daß er nun nicht Trübsal blasen werde, sondern die Anwesenheit im Camp dazu nutzen wolle, mit Evelyn videophonisch zu sprechen.
Am Nachmittag des gleichen Tages stieg Thomas den Pfad hinan, den er vor Wochen bereits einmal gegangen war, damals in der freudigen Erregung, Evelyn in die Arme zu schließen. Statt dessen hatten ihn zuerst der sprachgehandicapte Computer und dann Pjotr und Deland empfangen.
Thomas ging langsam. Das Videogespräch mit Evelyn wirkte noch in ihm nach. Er sah sie vor sich, zunächst beinahe ungeduldig, scheinbar eine Spur zu sachlich. Sie war auf seine Schilderung dessen, was sich am Vormittag in der Leitung von GEOMESS zugetragen hatte, nur zerstreut eingegangen. Thomas lächelte in der Erinnerung daran, denn dann war ihre Frage gekommen: »Tom, kannst du dir ein paar Tage frei nehmen?« Ich muß ziemlich geistreich ausgesehen haben, dachte er, als ich stammelnd, mit einigem Erstaunen und sogar nach kurzem Überlegen sagte, daß es wahrscheinlich gehen würde. Ihre Worte klangen ihm noch im Ohr:
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