Anthologie - Das Lustbett
daß ihr Heim ihre Burg ist, halte ich für sehr vernünftig. Man hat Freunde, die wissen, daß sie zu jeder Zeit und in jeder Aufmachung aufkreuzen können und dennoch eingelassen werden. Aber dann gibt es noch den entfernteren Bekanntenkreis, der sich das nicht herausnehmen kann, und diese Leute müssen sich damit abfinden, daß sie nicht jederzeit Zutritt haben, ganz einfach, weil es Situationen gibt, in denen das nicht erwünscht ist.
D’Heilencourt gehörte ohne Zweifel zu der zweiten Gruppe von Menschen. Ich gab Harriet ein paar kurze Anweisungen, und sie ging zur Tür und sagte in ihrem besten Französisch:
»Monsieur Montaigne du Nord läßt Ihnen sagen, daß er Sie jetzt leider nicht empfangen kann.«
Hinter der Tür war ein Prusten zu hören, und danach vernahmen wir ein paar wohlgesetzte Flüche. Der alte Knabe fing an, seine aristokratische Contenance zu verlieren.
»Ich habe ein Nein noch nie als eine Antwort akzeptiert. Seien Sie so gut und machen Sie sofort die Tür auf!«
Der Teufel ritt mich jetzt, und ich antwortete selbst: »Monsieur le comte, wenn Ihr Anliegen wirklich so wichtig ist, können wir vielleicht öffnen, aber dann müssen Sie versprechen, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind!«
»Machen Sie sich da nur keine Sorgen, ich bin ja schließlich kein grüner Junge mehr.«
»Nein, das bist du tatsächlich nicht, alter Junge«, dachte ich. Pierrette stellten wir in den Ankleideraum, um Krach mit Madame zu vermeiden, und wir anderen verteilten uns auf verschiede-ne Stühle. Harriet schloß die Tür auf, öffnete sie aber nicht, sondern legte sich anschließend aufs Bett, faltete die Hände unter dem Kopf und blickte erwartungsvoll zur Tür.
»Herein«, rief ich.
Die Tür ging auf.
Er mochte etwa fünfzig Jahre alt sein. Der Charme grauer Schläfen, feingemeißeltes Profil mit hoher Stirn und Aristokratennase, grauer Flanellanzug mit roter Nelke im Knopfloch, Regenschirm mit silbernem Handgriff und Monogramm, Sommerhandschuhe säuberlich in einer Hand zusammengefaltet.
VI
Conservatoire National de Musique, 14 Rue Madrid, Paris, Achtes Arrondissement.
Es ist eine Woche her, seit ich das letzte Mal hier war, aber es scheint viel länger zu sein. Ich möchte gern wissen, was Casadesus sagt, wenn er überhaupt etwas sagt. So schnell vergißt man sein Repertoire nicht… Aber darum geht es eigentlich nicht – nur seine Moskowski-Etüden und Mozart-Sonaten rein technisch zu beherrschen. Das kann eigentlich jeder, der über normale motorische Funktionen verfügt, und vielleicht ist das auch der Grund, warum er fast niemals ein Lob äußert, wenn jemand technische Vollendung zeigt – was selten genug vorkommt. Zu spielen heißt nicht, im richtigen Augenblick die richtige Taste zu berühren, Monsieur, zu spielen heißt, ein Musikant zu sein, es gibt so wenige Vollblutmusiker, so wenige Menschen, die vielleicht nicht in jedem Moment sagen können, warum sie das und das getan haben, die aber genau wissen, daß es so und nicht anders sein muß, und zum Teufel mit allen Analysen und Fingerübungen.
Es ist aber klar, auf die Fingerübungen und die Art des Anschlags kann man nicht verzichten; das gilt für Klaviaturen in ebenso hohem Maße wie für Votzen. Soll ich den dritten oder den vierten Finger nehmen? Der Anschlag bei einer Frau und der beim Klavier haben viel miteinander gemein. Der eine Anschlag verlangt mehr Feingefühl, der andere weniger. Einmal reagiert man wie die Äolsharfe auf den leichten Anschlag des Windes, zum anderen ist man weniger zart besaitet und trennt sich ungern von den Vorstellungen, die man nun einmal hat. Es geht immer darum, daß derjenige, der spielt, in jedem Einzelfall in der Lage ist, Temperatur und Klima eben dieses Falles genau abzuschätzen, sonst gerät jedes Bemühen zum Fiasko; die Einsätze des Orchesters kommen nicht, wie sie kommen sollen, darunter leidet das Zusammenspiel, und das Publikum ist enttäuscht. Und vom Publikum ist man ja schließlich abhängig, leider und Gott sei Dank, sonst wäre alles ja nur l’art pour l’art, und davon sollte man seit Cocteau geheilt sein, er ruhe in Frieden. Aber vielleicht sind wir trotzdem noch nicht davon geheilt?
Und jetzt versuche ich, den Beginn meines Wartens auf Godot aufzuschieben, der da oben in seinem Sessel sitzt und seine Lauscher präpariert hat. Hier komme ich an, stürme die Treppe empor, als wäre sie meine Via Dolorosa, und fühle mich wie Christus auf dem Weg nach Golgatha oder wie Sisyphus
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