Anthropofiction
Kleid rannte Miriam auf den Platz zu ihrer Mutter. Gerade rechtzeitig, bevor die Kranken zum Schlafen ins Gemeindehaus gebracht wurden.
»Oh, Liebling, wie gut du aussiehst!« rief die Mutter. Dann meinte sie schelmisch: »Man sagt immer: ›Gehe in Weiß, wenn du einen Mann fangen willst.‹«
»Mutter, wir müssen von hier verschwinden!« Miriam schrie sich bald die Lunge aus dem Hals.
»Ich dachte, wir hätten das Thema schon erledigt.«
»Mama, du sagst immer, du möchtest, daß ich ein anständiges Mädchen bin und mich nicht von Männern ausnutzen …«
»Ja, Liebes, das sagte ich.«
»Mama, fällt dir denn nichts auf? Bist du blind? Du mußt mir helfen – wir müssen von hier verschwinden, oder jemand – ich weiß nicht was … Oh, Mutter, bitte! Ich helfe dir beim Gehen. Ich weiß, daß du es kannst, ich sah dich mit Mrs. Pinckney zusammen üben.«
»Nun, setze dich hier hin, und erkläre mir alles. Aber beruhige dich!«
»Mama, hör zu ! Es gibt etwas, was jedes Mädchen hier tun muß, wenn es achtzehn ist. Du weißt doch, daß sie hier überhaupt keinen Arzt brauchen?« Verlegen zögerte sie. »Kannst du dich an Violet erinnern? Als sie geheiratet hat, ging sie zu Doktor Dix und ließ sich untersuchen.«
»Ja, Liebling. Nun beruhige dich doch und erzähle alles deiner Mutter!«
»Es ist eine Art Abschlußprüfung, verstehst du? Es ist wie eine Abschlußprüfung auf der Hochschule und es ist, als wollten sie nachsehen, ob du … ob du gut bist …«
»Was, zum Teufel, versuchst du mir eigentlich beizubringen?«
»Man muß zu diesen Feldern gehen und sich da hinsetzen und darauf warten, daß ein Mann einem Geld in den Schoß wirft. Dann muß man mit ihm ins Gebüsch gehen und mit ihm schlafen!« Hysterisch sprang Miriam auf und zerrte an der Matratze.
»Beruhige dich! Beruhige dich doch!«
»Ach, Mutter, ich wollte tun, was du mir gesagt hast. Ich wollte anständig sein.«
Ihre Mutter sagte: »Du erzähltest mir, du hättest dich mit diesem netten Clark-Jungen getroffen? Sein Vater ist Grundstücksmakler. Gutes Geschäft, Liebes. Überlege doch mal: Du brauchtest nicht mehr zu arbeiten!«
»Oh, Mutter!«
»Und wenn ich wieder gesund bin, könnte ich mit euch zusammen leben. Die Leute hier sind sehr gut zu mir. Es ist das erstemal, daß ich Leute gefunden habe, die sich wirklich Gedanken um mich machen. Und wenn du mit diesem netten, soliden Jungen, der einen ausgezeichneten Job bei seinem Vater zu haben scheint, verheiratet wärst, nun, dann könnten wir ein herrliches Haus zusammen haben – wir drei.«
»Mutter, wir müssen unbedingt hier weg ! Ich kann es nicht tun! Ich kann es einfach nicht!«
Das Mädchen warf sich ins Gras.
Wütend schlug die Mutter nach ihm.
»Miriam! Miriam Elsie Holland! Ich habe dich großgezogen, dich gekleidet, bin für dich aufgekommen und habe dich behütet wie meinen Augapfel, seit dein Vater gestorben ist. Und du dachtest immer nur an dich, an dich, an dich! Kannst du nicht einmal was für mich tun? Erst habe ich dich gebeten, auf die Sekretärinnen-Schule zu gehen, damit du einen guten Start hast und nette Leute kennenlernst. Das wolltest du nicht. Dann kriegst du die Chance, dich in einer hübschen kleinen Stadt bei einer netten, ordentlichen Familie niederzulassen, und du willst schon wieder nicht! Du denkst nur an dich. Hier habe ich endlich die Chan ce, wieder gesund zu werden und in einer schönen kleinen Stadt zu wohnen, wo die nettesten Familien leben, und dich mit dem Richtigen verheiratet zu sehen.«
Auf ihre Ellbogen gestützt, starrte sie ihre Tochter an.
»Kannst du denn nicht einmal etwas für mich tun?«
»Mama, Mama – du verstehst nichts !«
»Ich weiß schon seit der Woche, in der wir hier ankamen, alles über das Warten«, sagte die Frau und lehnte sich zurück in ihr Kopfkissen.
»Hol mir ein Glas Wasser und geh zurück und tue, was auch immer Mrs. Clark dir sagt.«
»Mutter!«
Schluchzend stolperte Miriam vom Platz. Sie lief zunächst zum Stadtrand, erreichte die Stelle der Autobahn, an der das Ortsschild stand und sah die zwei schäbigen Typen auf einem Kilometerstein sitzen, anscheinend in angenehmer abendlicher Unterhaltung versunken. Sie lief zurück und versuchte, über ein frisch gepflügtes Feld weiterzukommen. Hinter sich sah sie die Pinckney-Jungs, vor sich die Campbells und die Dodges über die Felder laufen. Als sie sich zitternd der Stadt zuwandte, gingen sie an ihr vorbei, ignorierten sie, mit sich selbst
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