Anthropofiction
hat es überhaupt keine mehr.«
Sie schüttelte den Kopf. »Eine Aussage verliert nicht an Bedeutung, nur weil sie nicht neueren Datums ist«, behauptete sie. »Sie hat jetzt ebensoviel Bedeutung, wie sie es immer gehabt hat. Wir haben nur noch nicht gelernt, sie zu entschlüsseln.«
»Diese Unterscheidung erscheint mir ziemlich sinnlos«, warf Selim von Ohlmhorst in die Unterhaltung. »Es gibt kein Mittel mehr, sie zu entschlüsseln.«
»Wir werden eines finden.« Sie merkte, daß ihr Ton eher selbstermutigend denn streitsüchtig klang.
»Wie? Durch Bilder und Überschriften? Wir haben Bilder mit Erläuterungen gefunden, und was haben sie uns gegeben? Eine Überschrift soll das Bild erklären, nicht das Bild die Überschrift. Angenommen, ein unserer Kultur Fremder fände ein Bild eines Mannes mit weißem Bart und Schnurrbart, der einen Holzklotz zersägt. Er würde denken, die Überschrift bedeute ›Mann beim Holzsägen‹. Wie könnte er je erfahren, daß in Wirklich keit ›Wilhelm II. im Exil zu Doorn‹ darübersteht?«
Sachiko hatte ihre Lupe abgenommen und steckte sich eine Zigarette an. »Ich kann mich an Bilder erinnern, die ihre Überschriften erläutern sollen«, sagte sie. »Diese Sprach-Bilderbücher, wie wir sie in der Armee verwenden – kleine Strichzeichnungen mit einem Wort oder mit einem Satz darunter.«
»Ja, natürlich, wenn wir etwas Derartiges fanden«, begann von Ohlmhorst.
»Michael Ventris hat etwas Derartiges gefunden, in den fünfziger Jahren«, unterbrach ihn Hubert Penroses Stimme von hinten.
Sie drehte sich um. Der Colonel stand am Tisch der Archäologen; Captain Field und der Raumpilot waren weggegangen.
»Er fand eine Menge griechischer Inventarlisten von Militär-Depots«, fuhr Penrose fort. »Sie waren in kretischer Linearschrift B abgefaßt, und am Anfang jeder Liste war ein kleines Bild, ein Schwert oder Helm oder ein Dreifuß zum Kochen oder ein Wagenrad. Das gab ihm den Schlüssel zu der Schrift.«
»Der Colonel wird ein richtiger Archäologe«, kommentierte Fitzgerald. »Auf dieser Expedition lernen wir alle unsere Spezialgebiete voneinander.«
»Davon habe ich gehört, längst bevor diese Expedition auch nur in Gedanken existierte.« Penrose klopfte eine Zigarette auf seinem goldenen Etui zurecht. »Ich habe damals vor dem Dreißig-Tage-Krieg davon gehört, auf der Nachrichtenakademie, als ich Leutnant war. Als große Leistung der Geheimschrift-Entschlüsselung, nicht als archäologische Entdeckung.«
»Ja, Geheimschriftentzifferung«, versetzte von Ohlmhorst. »Eine bekannte Sprache in einer unbekannten Schriftform lesen. Ventris’ Listen waren in der bekannten Sprache, Griechisch, abgefaßt. Weder er noch sonst irgend jemand hat je ein Wort der kretischen Sprache lesen können bis zum Fund des griechisch-kretischen Zweisprachentexts 1963, denn nur mit einem zweisprachigen Text, dessen eine Sprache schon bekannt ist, kann man eine unbekannte alte Sprache lernen. Und welche Hoffnung, frage ich, haben wir hier, irgend etwas Derartiges zu finden? Martha, du hast die ganze Zeit seit wir hier gelandet sind, an diesen mar sianischen Texten gearbeitet – die letzten sechs Mona te. Sag mir, hast du ein einziges Wort gefunden, dem du mit Bestimmtheit eine Bedeutung zuordnen kannst?«
»Ja, ich glaube, ich habe eins.« Sie bemühte sich sehr, es nicht zu triumphierend klingen zu lassen. » Doma. Es ist der Name eines der Monate des Marskalenders.«
»Wo hast du das gefunden?« fragte von Ohlmhorst. »Und wie hast du festgestellt …?«
»Hier.« Sie hob die Photokopie auf und reichte sie ihm über den Tisch. »Ich würde das als Titelseite einer Zeitschrift bezeichnen.«
Er schwieg einen Moment und betrachtete sie. »Ja, das würde ich auch sagen. Hast du irgend etwas von dem Rest?«
»Ich arbeite an der ersten Seite des ersten dort aufgeführten Artikels. Warte einen Moment; ja, hier ist alles, was ich gefunden habe, zusammen, hier.« Sie erzählte ihm, wo sie es gefunden hatte. »Ich habe es da einfach aufgesammelt und Geoffrey und Rosita zum Photokopieren gegeben; das ist das erste Mal, daß ich es richtig untersucht habe.«
Der alte Mann sprang auf die Beine, bürstete Tabakasche von seinem Jackett und kam zu ihr herüber. Er legte die Titelseite auf den Tisch und blätterte den Stapel Photokopien schnell durch.
»Ja, und hier ist der zweite Artikel, auf Seite acht, und hier der nächste.« Er kam zum Ende des Stapels. »Ein paar Seiten fehlen am Schluß des
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