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Anti-Eis

Anti-Eis

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Über dem Eingang der Kathedrale erhob
sich ein fünfhundert Fuß hoher, pyramidenartiger Turm;
seine entfernte Spitze, die von einer schneidig flatternden
britischen Flagge gekrönt wurde, schien an der leichten
Bewölkung zu kratzen.
    Ich hörte kaum das stetige Murmeln, mit dem meine Kollegen
der konsternierten preußischen Delegation Erklärungen
gaben: »Mit über fünfzig Morgen Glas – doppelt
soviel wie der Kristallpalast von 1851 – und mit hunderttausend
Ausstellern (doppelt soviel wie 1867 in Paris) wird diese Messe
wahrhaftig eine Ausstellung der industriellen Leistungen aller
Nationen sein und eine angemessene Würdigung von Manchesters
neuem Status darstellen: Manchester und der Norden Englands,
Werkstatt und Hauptstadt Britanniens und des Empire… die
Veranstalter erwarten insgesamt zehn Millionen Besucher –
hunderttausend allein an diesem Eröffnungstag…«
    Wir betraten das Gebäude. Ich stand nun in diesem riesigen,
stillen Raum; das transparente Glasdach schien sich so weit oben zu
befinden, daß sich Wolken unter ihm bilden konnten, und das
eiserne Gerüst von Sir Josephs Konstruktion wirkte filigran und
leicht, viel zu schwach, um eine derartige gläserne Last tragen
zu können. Der generelle Eindruck entsprach dem eines
großen Glashauses; tatsächlich war die Luft im Inneren des
Gebäudes angenehm kühl, dank zwanzig großer
Ventilatoren, die hoch oben in die Wände eingelassen waren und
dem Vernehmen nach von Anti-Eis-Dampfturbinen angetrieben wurden.
    Die akustische Kulisse aus erregten Stimmen, die das Gebäude
durchdrang, schien sich auf die paar Fuß bis auf Kopfhöhe
zu beschränken, als ob das riesige Volumen der Luft die
Aktivitäten der Menschen zur Bedeutungslosigkeit reduzierte. Die
Schwebebahn zog sich ohne erkennbare Abstützung durch diesen
großen Raum und endete an einer kleinen Plattform, die in die
Innenseite der Wandung integriert war; eine Rolltreppe
beförderte die Passagiere von der Plattform zum Boden.
    Ein hohes Podest war am anderen Ende des Gebäudes errichtet
worden; auf ihm hatte sich bereits eine Gruppe herrschaftlich
wirkender Gentlemen in Frack und Zylinder eingefunden – nicht zu
vergessen ein voll besetztes Orchester und tausend Chorsänger.
Könige, Kanzler und Präsidenten formierten sich ehrerbietig
in Reihe vor diesem Podest. Ich führte meine preußische
Delegation zu Plätzen, die mit roten, durch Messingständer
geführten Seilen markiert waren. Ich verharrte geduldig an
meinem Platz, wobei ich die in Handschuhen steckenden Hände vor
mir gefaltet hatte; und als ich nach unten schaute, sah ich mit
Erstaunen, daß der ganze Boden der Kathedrale mit einem dicken
roten Teppich ausgelegt war.
    »Das ist in der Tat eine kostspielige
Veranstaltung.«
    Konsterniert blickte ich nach links – und starrte in zwei
eisblaue weibliche Augen, aus denen der Schalk sprach und die aus
einem porzellanartigen Gesicht schauten.
    Ich stammelte eine Antwort.
    »Entschuldigen Sie«, meinte sie nachsichtig, »mir
ist aufgefallen, daß Sie die Ausmaße des Teppichs
bewundert haben. Ich war auch davon beeindruckt.« Sie
lächelte mich an – und die Sonne schien aufzugehen. Meine
neue Bekanntschaft war vielleicht fünfundzwanzig; sie trug ein
elegantes Kleid aus hellblauem Samt mit leichter Turnüre, das
ihre Augen perfekt zur Geltung brachte; ihr tiefschwarzes Haar war zu
einem schlichten Knoten gebunden, wobei ihr indessen anmutig Locken
in die Stirn fielen. Sie trug ein Halsband aus schwarzem Samt, und an
diesem Hals, einer Skulptur aus alabasterfarbenem Fleisch, glitten
meine Augen hinab zu einem verführerischen Dekollete…
    Und ich, selten dämlich, konnte den Blick nicht von ihr
wenden. Ich registrierte vage einen jungen Mann hinter ihr, eine
dunkle, schlanke Gestalt, die mich mißtrauisch beäugte.
»Ich bitte um Verzeihung«, stammelte ich schließlich.
»Mein Name ist Vicars; Ned Vicars.«
    Sie reichte mir eine kleine, behandschuhte Hand; ich ergriff sie
vorsichtig. »Ich bin Françoise Michelet.«
    »Ah…« Sie sprach mit einem schwachen, aber dennoch
wahrnehmbaren Akzent; ›Ausmaße‹ hatte wie
›Ausmasse‹ geklungen, mit der weichen Aussprache der
südlichen Provinzen Galliens, vielleicht Marseille. »Ihr
seid Französin, Mam’selle?«
    »Ihr solltet eigentlich in Eurem Foreign Office sein«,
entgegnete sie spröde.
    »Ich bin«, antwortete ich wie ein Trottel – und
lachte dann innerlich, als ich ihren Witz begriff. »Ich befinde
mich hier im Dienst,

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