Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
durchzieht. Zunächst hatte Freud in der Zeitung gelesen, dass ein General, den er während seines Militärdiensts kennengelernt hatte, in den Ruhestand gegangen war. Freud resümierte, die Begegnung habe 1882 stattgefunden, der General sei 1899 in den Ruhestand gegangen und habe also noch 17 Jahre lang gearbeitet.
Dann berichtete er seiner Frau von der Sache, die fragte, ob
nicht auch ihr Mann bald in den Ruhestand gehen sollte. Freuds zweites Resümee lautete deshalb, seine Frau glaube wohl, er sei reif für den Ruhestand. Er rechnete nach. Führen wir uns die Fantasierechnung aus der hochseriösen Psychopathologie des Alltagslebens zu Gemüte: »Meine Großjährigkeit, meinen 24. Geburtstag also, habe ich im Militärarrest gefeiert (weil ich mich eigenmächtig absentiert hatte). Das war also 1880; es sind 19 Jahre her. Da hast Du nun die Zahl 24 in 2467! Nimm nun meine Alterszahl 43 und gib 24 Jahre hinzu, so bekommst Du 67! [ Sic, er setzte tatsächlich ein Ausrufezeichen.]« (ebd., S. 271) Er konfrontierte seine erstaunte Frau also mit dem Plan, mit dem Ruhestand noch vierundzwanzig Jahre warten zu wollen, und war hoch erfreut über die Aussicht, noch fast ein Vierteljahrhundert Zeit für die Vollendung seines Lebenswerks zu haben!
Freuds ausgeprägter Aberglaube und seine Faszination für das Okkulte beweisen, dass er tatsächlich im Wunderland lebte. Die Legende von Freud als Denker in der Tradition des Siècle des lumières bekommt Risse. Die Ansichtskarte, auf der Freud als großer Aufklärer des 20. Jahrhunderts zu sehen ist, vergilbt und wellt sich, und die Fiktion von Freud als Erbe der großen europäischen Philosophen des 17. Jahrhunderts verblasst.
II.
Im Königreich der magischen Kausalitäten
Was ist das Wesen der Magie?
»[D]as Mißverständnis, welches sie psychologische Gesetze
an die Stelle natürlicher setzen heißt.«
Sigmund Freud, Totem und Tabu (Bd. IX, S. 103)
Freud hatte Marcel Mauss’ 1902/03 entstandenen Text Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie gelesen, denn er erwähnte ihn in einer Fußnote in Totem und Tabu (Bd. IX, S. 97). Was er davon hielt, wissen wir nicht. Wir haben gesehen, dass Freud Zweifel an der Magie hegte, was bedeutet, dass er sie nicht voll und ganz ablehnte. Denn wenn er eine echte Gegenposition ausdrücken wollte, schlich er für gewöhnlich nicht lange um den heißen Brei herum und bezeichnete etwa die Religion als Zwangsneurose, Moses als Ägypter oder das Christentum als Unterdrücker der Sexualmoral. Weshalb fiel seine Kritik an Magie und Okkultismus nicht ebenso deutlich aus?
Totem und Tabu enthält ein Kapitel über Magie, das keineswegs abschätzig formuliert ist. Freud unterscheidet darin zwischen Zauberei und Magie: Das eine sei die Kunst, Geister zu beeinflussen, das andere eine animistische Technik, mit der die Naturvorgänge dem Willen des Menschen unterworfen und die Menschen vor Schaden und Feinden geschützt werden sollten.
Dann wendet er sich den magischen Prozeduren zu, etwa Regen machen, Fruchtbarkeit oder Jagderfolg erzielen, Feinde schädigen oder sich die Eigenschaften eines Toten aneignen. Freud zog dazu Untersuchungen von Anthropologen und Ethnologen zurate und lieferte eine Definition, die besonderes interessant ist, wenn
man wie ich Psychoanalyse und magisches Denken in einen Zusammenhang bringen möchte. Was also ist nach Freud das Wesen der Magie? »[D]as Mißverständnis, welches sie psychologische Gesetze an die Stelle natürlicher setzen heißt.« (ebd., S. 103) Wir lesen richtig: Die mangelnde Kenntnis der Wirklichkeit und der Naturgesetze führt zur Entstehung von psychologischen Gesetzen als Erklärung für scheinbar Unerklärliches.
Tatsächlich betonte Freud während seines langen Denkerlebens immer wieder, dass die Menschen an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert nicht über zureichende wissenschaftliche Antworten auf die Fragen nach der Entstehung psychischer Krankheiten, Neurosen oder nach der allgemeinen Funktionsweise des Seelenlebens verfügten. Er selbst gestand ein, sich der Psyche zugewandt zu haben, weil der Körper sich der Erkenntnis entziehe. Er zog das metaphorische Unbewusste dem anatomischen Keimplasma vor und die magische Metapher dem wissenschaftlichen Rätsel.
Man könnte Freuds Definition also auf ihn selbst anwenden und die These aufstellen, dass die Psychoanalyse nach dem gleichen Prinzip funktioniert wie das primitive Denken. In anderen Worten: Sie ist ein Urdenken, das eine
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