Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
denen man die eigene Existenz verdankt, zunächst die Eltern – vor allem die Mutter –, dann auch die Amme.
Um zu erklären, dass manche Menschen diese Entwicklung nicht ganz durchliefen und die Objektwahl auf sich selbst
richteten, sprach Freud von einer Störung: »Wir haben, besonders deutlich bei Personen, deren Libidoentwicklung eine Störung erfahren hat, wie bei Perversen und Homosexuellen, gefunden, daß sie ihr späteres Liebesobjekt nicht nach dem Vorbild der Mutter wählen, sondern nach dem ihrer eigenen Person. Sie suchen offenkundigerweise sich selbst als Liebesobjekt, zeigen den narzißtisch zu nennenden Typus der Objektwahl.« (Bd. X, S. 154) Demnach seien Homosexuelle unfähig, andere zu lieben, da sie nur sich selbst liebten. Die Libido kann sich also bei jedem Menschen auf zwei Arten entwickeln. Entweder sie richtet sich auf die mütterliche Ernährerin oder den väterlichen Beschützer, oder sie richtet sich auf einen selbst. Freud unterschied diese Formen als Anlehnungstypus und narzisstischen Typus.
1910 fügte Freud dem Kapitel »Die sexuellen Abirrungen« aus Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie eine Anmerkung über den narzisstischen Ursprung der Homosexualität hinzu. Das Kind sei normalerweise auf die Eltern, besonders auf die nährende Mutter fixiert. Diese Fixierung müsse jedoch von neuen Sexualobjekten abgelöst werden. Der Homosexuelle durchlaufe diese Entwicklung nicht. Er liebe ein gleichgeschlechtliches Wesen, weil er es mit sich selbst identifiziere, mit dem einst geliebten, von der Mutter verhätschelten Kind. Deshalb wollten Homosexuelle »jugendliche und der eigenen Person ähnliche Männer aufsuchen, die sie so lieben wollen, wie die Mutter sie geliebt hat.« (Bd. V, S. 44)
Dass Freud eine Petition gegen die Stigmatisierung von Homosexuellen unterzeichnet hatte, hielt ihn nicht davon ab, zu schreiben: »Bei den Inversionstypen ist durchwegs das Vorherrschen archaischer Konstitutionen und primitiver psychischer Mechanismen zu bestätigen. Die Geltung der narzißtischen Objektwahl und die Festhaltung der erotischen Bedeutung der Analzone erscheinen als deren wesentlichste Charaktere.« (ebd., S. 45) Archaisch und primitiv sind hier als Indikatoren einer unvollendeten, von Freud aber als prototypisch konzipierten Entwicklung zu verstehen. Demnach ist die Frau ein unvollendeter
Mann und der Homosexuelle eine sexuell nicht vollständig entwickelte Person.
Freuds Denken unterwirft die Frauen, weil es ihnen Eigenschaften aberkennt, die im Allgemeinen und besonders bei Freud als männlich gelten. Freuds Welt der Abirrungen erstreckte sich vom fehlenden Penis der Frauen bis zur gestörten Entwicklung der Homosexuellen. Wer glaubt jetzt immer noch, Sigmund Freud sei ein Revolutionär auf dem Gebiet der Sitten gewesen?
V.
Freuds »respektvoller Gruß« an die Diktatoren
»War er Sozialdemokrat?« Reich: »Ich glaube nicht.«
Ein Journalist im Gespräch mit Wilhelm Reich über Freud
(Reich, Reich speaks of Freud )
Freuds ontologischem Konservatismus zufolge hat die sexuelle Verdrängung zwar Nachteile für das Individuum, weil sie Neurosen verursacht, aber die sexuelle Befreiung ist ebenso schädlich, führt sie doch zum Einsturz unseres Gesellschaftsgebäudes. Sein sexueller Konservatismus koppelte die Kritik an der herrschenden Sexualmoral an ein Loblied auf das Rette-sichwer-kann, denn jeder sei sich selbst der Nächste und müsse notfalls auf die Psychoanalyse zurückgreifen, um mit seinem Triebleben zurechtzukommen. Sein sittlicher Konservatismus stigmatisierte Masturbation, erklärte die Frau zum Untermenschen und den Homosexuellen zum unvollendeten Wesen. So bewegte Freud sich am Gegenpol der philosophischen Aufklärung. Und auch seine politischen Ansichten offenbaren den radikalen Antiphilosophen.
Ein Mensch, der eine derart düstere Ontologie vertrat, stand auch in Fragen der Politik in wenig rosigem Licht. Sein tragischer Pessimismus verbot ihm jeden sozialen Optimismus. Wie also sah der politische Freud aus? Bisher hat diese Frage die Freud-Biographen wenig interessiert; mit der Behauptung, es gäbe ohnehin kaum etwas dazu zu sagen, ging man schnell darüber hinweg. Freuds politische Ansichtskarte zeigt deshalb meist dieses Bild: Der Wiener Erfinder der Psychoanalyse war ein moderater und aufgeklärter liberaler Jude. Doch die Wirklichkeit ist von dieser
Fiktion weit entfernt. Jude war Freud zwar, doch liberal, moderat und aufgeklärt war er
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