Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
kontrollierte die Straßen mit einer brutalen Miliz, ließ politische Gegner ermorden oder willkürlich einsperren, verbot Nichtfaschisten per Gesetz den Zugang zu wichtigen Posten, zensierte die Presse, hob das Recht auf Streik auf, agierte außenpolitisch als Imperialist, ließ schon die Kinder mit der faschistischen Ideologie indoktrinieren, betrieb aktive Geburtenförderung mit Strafabgaben für Unverheiratete und Geburtsprämien, verbot Abtreibung und Verhütung und kontrollierte die Radiosender. Das also war Benito Mussolini am Tag der unseligen Unterschrift.
Was genau schrieb Freud in der Widmung? Er schickte Mussolini einen respektvollen Gruß. Jeder weiß, dass der Gruß in einem faschistischen Regime einem Treueschwur gegenüber dem Diktator gleichkommt. Über den Respekt müssen wir gar nicht erst reden, er drückt Unterwürfigkeit aus. Die Widmung an den Duce machte aus dem Diktator außerdem einen Helden der Kultur. Vergeblich sucht man in Freuds Worten nach Ambivalenz. Es gibt keine. Am 26. April 1933 widmete der weltberühmte Psychoanalytiker Sigmund Freud in seiner Wiener Praxis in der Berggasse 19 im Alter von siebenundsiebzig Jahren und im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte eines seiner Bücher dem faschistischen Diktator und lobte ihn als einen Mann der Kultur.
An der Sache ist kein Zweifel. Ernest Jones erwähnte die Episode, fälschte jedoch den Text der Widmung. Ich habe aus der Widmung zitiert, die im Nationalarchiv in Rom liegt. Jones entschied sich für die Formulierung: »Von einem alten Mann, der im Diktator den Kulturheros erkennt.« (Jones, Sigmund Freud — Leben und Werk, Bd. III, S. 216) Wieso ließ er den respektvollen Gruß verschwinden? Wenn es nichts zu verstecken gab, wieso versteckte er dann etwas? Und ausgerechnet die problematischste Formulierung? Oder gab es so viel zu verbergen, dass Eduardo Weiss Jones alles detailliert erzählte und ihn dann bat, es für sich zu behalten?
Die Hagiographie kann die Faktizität, die konkreten Worte dieser Widmung nicht ignorieren. Um ihren Helden zu entlasten würde es genügen, auf den verborgenen Sinn, die tiefere Bedeutung, den symbolischen Charakter, den latenten Inhalt hinzuweisen und aufzuzeigen, dass die Respekts- und Ehrenbezeugung für Mussolini gar keine Respekts- und Ehrenbezeugung für Mussolini ist, sondern etwas ganz anderes, das viel besser zur Legende und zur Ansichtskarte des fortschrittlich-liberalen Wiener Juden passt.
Also musste eine Rhetorik zur Erklärung der Widmung herhalten, die so jesuitisch wie möglich war. Das erste Argument lautete, als Antiquitätensammler habe Freud eine besondere Vorliebe für Rom gehabt und sehr viel über Archäologie gelesen. Auch Mussolini habe das römische Kaiserreich geliebt und sich daran orientiert. Der faschistische Gruß sei in diesem Zusammenhang zu sehen. Denn auch die Ausrichtung an Cäsars Autoritarismus und die kriegerische Expedition nach Afrika zeigten die Vorliebe der Faschisten für das antike Rom. Doch im Jahr 1933, als Hitler seit vier Monaten an der Macht war, bedeutet die Erklärung Mussolinis zum Helden der Kultur weniger dessen Gleichsetzung mit Julius Cäsar als vielmehr die Herabsetzung der gesamten römischen Antike.
Das zweite Argument der Hagiographen besagte, Freuds gesamtes
Werk zeuge von einem tiefen Antifaschismus. Die Widmung könne also nicht tatsächlich das besagen, was sie buchstäblich vermittelt. Erneut gaben sie sich mit einer Ansichtskarte von Freud zufrieden, anstatt zu lesen, was dieser über das Verhältnis von Masse und Führer geschrieben hatte. Demnach müssen die Triebe der Masse durch einen Herrscher unterdrückt werden, der einen bestimmten Charakter haben und dem Stammesvater der Urhorde ähneln muss. So steht es in Massenpsychologie und Ich-Analyse, in Totem und Tabu oder in Das Unbehagen in der Kultur. Im folgenden Kapitel werde ich die unglücklichen Parallelen zwischen einigen Thesen Freuds und der faschistischen Politik behandeln.
Das dritte Argument behauptete, Freud habe das Buch Warum Krieg? mit einem ironischen Augenzwinkern ausgewählt. Die Legendenbildung präsentiert es als eine Art Handbuch des Pazifismus. Dergleichen kann man nur behaupten, solange man das Buch nicht gelesen hat! Denn es zeugt vom pessimistischen Cäsarismus seines Autors, der zwar gern ohne Krieg auskäme, doch um die Hoffnungslosigkeit dieses Wunsches wusste – zweifelte er doch in seinem gesamten Werk nie am immerwährenden Todestrieb, an der
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