Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
»[D]ie Grenzen zwischen beiden sind nicht scharf gezogen, die Mechanismen sind im weiteren Ausmaß die nämlichen« (Bd. XVI, S. 233). Und schon 1901 hieß es in Zur Psychopathologie des Alltagslebens: »daß wir alle ein wenig nervös seien« (Bd. IV, S. 309). In Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie sprach Freud 1905 von »den Psychoneurotikern, einer zahlreichen und den Gesunden nicht ferne stehenden Menschengruppe« (Bd. V, S. 132). 1912 bekundetet er in Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, »daß es nur quantitative und nicht qualitative Unterschiede zwischen den Normalen und den Neurotischen gebe« (Bd. IV, S. 35), und 1937 stellte er in Die endliche und die unendliche Analyse fest, das normale Ich sei, »wie die Normalität überhaupt, eine Idealfiktion. […] Jeder Normale ist eben nur durchschnittlich normal, sein Ich nähert sich dem des Psychotikers in dem oder jenem Stück, in größerem oder geringerem Ausmaß« (Bd. XVI, S. 80). In Abriß der Psychoanalyse schließlich bekundete Freud, »daß die Abgrenzung der psychischen Norm von der Abnormalität wissenschaftlich nicht durchführbar ist« (Bd. XVII, S. 125).
Wenn Freud recht hat, können wir vom Fall Freud sprechen, so wie er vom Fall des Wolfsmannes, des Rattenmannes oder der Anna O. sprach. Tatsächlich war Freud psychisch von Bertha Pappenheim, Sergej Pankejeff, Ernst Lanzer oder anderen berühmten Patienten nicht weit entfernt: Er neigte zum Inzest, dachte ständig daran, seinen Vater zu töten, wollte mit seiner Mutter schlafen, hatte sexuelle Träume von seinen Töchtern, pflegte eine innige und seine Tochter sexuell hemmende Beziehung zu Anna, beging mit seiner Schwägerin Ehebruch und beschäftigte
sich theoretisch intensiv mit der Masturbation, die seine große Leidenschaft zu sein schien – in diesem Zusammenhang amüsiert Paula Fichtls Erinnerung, in den Taschen von Freuds Hosen seien immer Löcher gewesen.
Es ist verständlich, dass Freud aus Gründen des seelischen Überlebens eine große Nähe zu den psychisch gestörten Patienten zeigte. Doch jenseits davon zeugen seine zitierten Äußerungen von einem anhaltenden ontologischen Nihilismus. Wenn der Verrückte und der geistig Gesunde gleich sind und sich die Insassen psychiatrischer Anstalten kaum von den sie behandelnden Ärzten unterscheiden, dann ist alles gleich und es gibt keine Differenz mehr zwischen dem Opfer und seinem Peiniger.
In welchen Kategorien soll man dann beispielsweise die Endlösung beschreiben, sofern sie die Familie Freud betraf? Wie soll man intellektuell begreifen, was Freuds Schwester Adolfine, die in Theresienstadt verhungerte, Marie und Paula, die in Maly Trostinec umgebracht wurden, oder Rosa, die im Vernichtungslager Treblinka starb, psychisch vom Lagerkommandanten Rudolf Höß unterscheidet – wenn es doch keine psychische Differenz gibt und eventuelle Unterschiede so verschwindend gering sind, dass Freud diese minimale und doch entscheidende Kluft nie untersuchte?
Dieser auf die Psyche bezogene ontologische Nihilismus entsprach genau dem metaphysischen Nihilismus des 20. Jahrhunderts, der sich im Triumph des Todestriebs zeigte. Denn Freuds Theorie besagte auch, dass eine Person, bei welcher der Lebenstrieb vorherrschte, keineswegs einer Person gleichen könne, bei welcher der Todestrieb dominierte. Die Trennung von normal und pathologisch verlief entlang der Linie, die Nekrophile, Zoophile, Pädophile, Perverse und Sadisten, denen andere Menschen gleichgültig sind, von jenen unterscheidet, die sich um andere sorgen; und sie genügte, um Freuds Psychoanalyse aus dem Schatten der Dekadenz und des Fin-de-Siècle hervorzuholen, in dem sie wie ein Nachtschattengewächs gediehen war. Viele Intellektuelle
des 20. Jahrhunderts ließen sich von ihrer pessimistischen Weltsicht verführen.
Zuerst verfiel die intellektuelle Elite Europas diesem speziellen Charme der Psychoanalyse. Paradoxerweise wurde Freud, der radikale Gegenphilosoph, pessimistische Denker und fatalistische Theoretiker des Trieblebens zum Avantgardisten, der den Dadaismus und André Bretons Manifest beeinflusste, zur Muse von Salvador Dalís kritischer Paranoia und André Gides Introspektion, der wiederum dann auch den Verlag Gallimard bekehrte. Der junge Breton war zwar enttäuscht, als er Freud 1921 in Wien besuchte und einen alten Provinzarzt mit vollem Wartezimmer vorfand, der Frankreich nicht mochte, weil er glaubte, von den Franzosen nicht genug gemocht zu werden.
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