Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
halte, sei die Tätigkeit des kapitalistischen Systems.« (Freud/Ferenczi, Briefwechsel, Bd. III/2, S. 277) Freud konnte eine phänomenologische, in diesem Fall politische Herleitung seiner transzendentalen Konzepte nicht akzeptieren.
In einem Brief an Eitington vom 20. November 1932 bezeichnete er Reich als »a nuisance« [ein Ärgernis] (Freud/Eitingon, Briefwechsel, S. 839). Freuds Verlag lehnte die Veröffentlichung von Reichs Charakteranalyse ab. Als die psychoanalytischen Institutionen mit Freuds Zustimmung die Modalitäten der Fortführung der Psychoanalyse unter dem Naziregime verhandelten, wurde Reich schließlich aufgrund seines politischen Engagements als Linker ausgeschlossen! Anders als Freud, dessen zahlende Klientel sich aus dem Wiener Großbürgertum rekrutierte, war Reich in einer psychoanalytischen Klinik tätig und behandelte
gratis Fabrikarbeiter, Hausangestellte, Arbeitslose oder Landarbeiter. Anna Freud beschwerte sich einmal, dass Reich in Wien vor Kommunisten einen Vortrag über Psychoanalyse gehalten hätte. An Eitington schrieb sie am 17. April 1933: »Papa würde sich sehr freuen, R[eich] aus der Vereinigung loszuwerden.« (ebd., S. 854) Im Juli desselben Jahres wurde Reich ausgeschlossen. Mit den Nazis konnte man zusammenarbeiten, aber nicht mit einem Kommunisten.
Reich forderte die sexuelle Revolution, pries den Orgasmus, verlangte sexuelle Aufklärung für alle, speziell für junge Menschen, kritisierte Faschismus und Kapitalismus als Systeme der Triebunterdrückung sowie die Familie als repressive und Neurosen produzierende Einheit; hielt nicht viel vom monogamen Patriarchat, attestierte der jüdisch-christlichen Sexualmoral, Ursprung aller Pathologien zu sein; kämpfte für eine Verbindung einer postfreudianischen Psychoanalyse mit einem postsowjetischen Marxismus; glaubte an die Möglichkeit, durch politisches Handeln Glück auf Erden zu erreichen, und wollte die Psychoanalyse zu hedonistischen, gemeinschaftlichen und freiheitlichen Zwecken nutzen. Wie hätten die Achtundsechziger diesen intellektuellen Sprengstoff unbeachtet lassen können?
Und im Nachkriegseuropa explodierte noch eine weitere freudomarxistische ideologische Bombe. Sie trug den Namen Herbert Marcuse. Mit dem in die USA ausgewanderten deutschen Philosophen erschien die Psychoanalyse zum zweiten Mal in dem Vierteljahrhundert nach Freuds Tod jenen, die sein Gesamtwerk nicht kannten, als eine befreiende, freiheitliche, hedonistische Disziplin, die Christentum sowie roten und braunen Totalitarismus gleichermaßen angriff und das Potential einer politischen Alternative hatte.
Marcuse machte keinen Hehl daraus, dass er seine freudomarxistische Position Wilhelm Reich verdankte. Im Nachwort von Triebstruktur und Gesellschaft erwähnte er Reichs Buch Der Einbruch
der Sexualmoral, das Freud und Marx eine äußerst unwahrscheinliche Verbindung eingehen lässt. Die Theorie einer von der Gesellschaft unterdrückten Libido kombinierte Reich mit dem Glauben an die Möglichkeit, diese Unterdrückung zu beenden, und zwar durch eine Gesellschaft, die sich nicht dem Realitäts-, sondern dem Lustprinzip beugte, um so ein neues Realitätsprinzip zu schaffen.
Triebstruktur und Gesellschaft erschien 1955 mit dem Untertitel Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud. Das Buch verstand sich nicht als Weiterentwicklung, sondern als Philosophie der Psychoanalyse. Marcuse kritisierte die industrielle Gesellschaft, plädierte für mehr Freiraum für die Triebbedürfnisse, wollte die sexuelle Unterdrückung abschaffen, die Libido vom Kapitalismus entkoppeln, das Individuum befreien, all seine Bedürfnisse befriedigen und Lust und Freude schaffen; er forderte das Ende der Konsumgesellschaft und der entfremdenden Lohnarbeit. In Der eindimensionale Mensch ging er 1964 noch weiter. In Frankreich erschien das Buch im Jahr 1968.
Freud hätte sich in diesem linken Nietzscheanismus nicht wiedererkannt, der sich auf ihn berief, um eine Welt abzuschaffen, deren Ende in Freuds Lehre gar nicht vorgesehen war. Wir erinnern uns, dass Freud radikal pessimistische Positionen vertrat und die Psychoanalyse als individuelle, wenn nicht gar individualistische Therapie konzipiert hatte, ohne die Geschichte zu berücksichtigen. Ihm ging es nicht darum, die Welt zu verändern. Die Couch war das Versprechen auf ein besseres Leben in einer unveränderlichen Welt.
Der Freudomarxismus zeichnete ein verführerisches Bild von Freud, machte aus dessen Lehre eine
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