Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
Doch Freud, der ein erklärter Gegner der Surrealisten war, wurde ungewollt zur Gallionsfigur des modernen Nihilismus nach dem Ersten Weltkrieg.
Die Geschichte der Entwicklung seiner Theorie zur Vulgata der Postmoderne muss noch geschrieben werden: Wie konnte die Wiener Disziplin nach den gescheiterten Hoffnungen vom Mai 1968 zur Ersatzideologie werden? Diese Frage bietet Stoff für ein sehr dickes Buch. Die Barrikaden waren als Zukunftsperspektive für Marx, Mao, Lenin und Trotzki gedacht gewesen. Wie jeder weiß, wurde daraus nichts. So wurde die Psychoanalyse in den siebziger Jahren zur Ersatzreligion vieler Linker und Kommunisten. Neuer Anführer war Jacques Lacan, ein Schmierenkomödiant, der seinerseits stark vom Surrealismus beeinflusst war! Der Erfolg der Psychoanalyse bestand nun in einer besonderen Form der Hypnose – anders gesagt: in einer Variation der altbekannten kollektiven Halluzination.
Die Psychoanalyse begleitete die Entpolitisierung und die Konzentration auf das Ego; sie wurde zur Göttin einer Zeit der Dekadenz. Die politische Revolution war nicht mehr unmittelbar aktuell, die marxistisch-leninistische oder maoistische Verheißung vom Paradies musste der Marktwirtschaft und dem Liberalismus weichen, welche ohne nennenswerte Opposition die ideologische
Herrschaft übernahmen. Selbstbezogenheit wurde zum dominierenden Prinzip. So entstand das Monster namens liberaler Individualismus, der gleichbedeutend mit Egoismus oder gar Egomanie ist. Weil das postmoderne Subjekt die Welt nicht verändern konnte, richtete es sich möglichst komfortabel in ihr ein. Die Couch verhieß dem Patienten einen sicheren Platz in einer zunehmend haltlosen Welt.
Schließlich gibt es noch einen fünften Grund für den Erfolg der Psychoanalyse speziell nach 1968, nämlich ihre freudomarxistisch akzentuierte Mediatisierung. Freuds ontologischer Pessimismus und seine cäsaristischen politischen Positionen – namentlich die Widmung für Mussolini, die Unterstützung des Austrofaschismus, die vehemente Kritik am Bolschewismus, Marxismus und Kommunismus, das Schweigen zum Faschismus und den Nazis, die Theorie vom »Übermenschen« als Führer der Horde und die elitäre Utopie einer Aristokratie an der Spitze der Masse – verschwanden unter dem roten Deckmantel jener Psychoanalytiker, die sowohl Freud als auch die Revolution für sich beanspruchten.
Wilhelm Reich veröffentlichte 1927 eine erste Version von Die Funktion des Orgasmus. Darin variierte er Freuds sexuelle Ätiologie der Neurosen und erweiterte sie um eine historische Dimension. Freud dachte in der Kategorie des Noumenon, konzeptualisierte und jonglierte mit Allegorien und Metaphern, schrieb Mythologie und Symbolik mehr Geltung zu als Realität und Geschichte und dachte in einem tradiert idealistischen philosophischen Rahmen. Reich dagegen biologisierte und historisierte die Psychoanalyse und betrachtete das Unbewusste nie getrennt von den konkreten historischen Bedingungen.
Die Erstausgabe enthielt eine Widmung an Freud zu dessen Geburtstag. Reich eignete das Buch seinem Lehrer Professor Freud zu mit tiefem Respekt. Doch die folgenden, um Kapitel über den sozialen Ursprung der Verdrängung oder das Irrationale des Faschismus erweiterten Fassungen dürften Freud genauso wenig
gefallen haben wie Reichs Konzeption des Orgasmus als eine Energieentladung, welche die Gesellschaft aus Angst vor Veränderung einzuhegen versuche. Glaubte Freud, die Unterdrückung der Triebe sei unvermeidbar und notwendig für die Gesellschaft, so schlug Reich einen anderen Weg ein, dessen Richtung die Titel seiner Bücher vorgeben: Die sexuelle Revolution, Der sexuelle Kampf der Jugend oder Die Massenpsychologie des Faschismus, eines seiner Hauptwerke, in dem er den Faschismus radikal kritisierte und zeigte, inwiefern auch Kirche und Familie das System stützten. Von Freuds freundschaftlicher Widmung an den Duce war Reich ganz weit entfernt.
Die erste Version von Die Funktion des Orgasmus mit dem Titel Die Bedeutung der Geschlechtlichkeit veröffentlichte Freud im eigenen Verlag, nachdem er Reich gebeten hatte, das Manuskript ein wenig zu kürzen. Doch Reichs Text Der masochistische Charakter von 1932 gefiel ihm überhaupt nicht. In einem Brief an Eitington vom 9. Januar 1932 bezeichnete er ihn als »bolschewistische Propaganda« (Freud/Eitingon, Briefwechsel, S. 778) und sprach in einem Brief an Ferenczi (24. Januar 1932) von »dem Unsinn […] was man für Todestrieb
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