Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
versucht, dem Eindringen von außen mit allerlei sophistischer Logik entgegenzuwirken, unter anderem auch, indem sie unter dem Vorwand, diese oder jene französische Übersetzung eines freudschen Begriffes sei moderner oder präziser, bestimmte Aussagen verändert.
Beispielsweise war Anne Bermans 1962 in La Technique psychanalytique verwendete Übersetzung der »gleichschwebenden Aufmerksamkeit« mit »attention flottante« problematisch, weil Freuds Ausdruck beinhaltete, dass der Psychoanalytiker nur über sein Unbewusstes mit dem Unbewussten des Patienten in Kontakt steht und er deshalb während der Sitzung auch dösen oder sogar schlafen könnte, ohne dass die Qualität der Analyse davon beeinträchtigt würde. Man müsste den Terminus deshalb mit »attention égale« übersetzen, wodurch allerdings das Skandalöse an diesem Konzept nicht mehr erkennbar wäre. Ich selbst würde es mit oreille distraite übersetzen. In diesem Zusammenhang bemerkte Freud, die »gleichschwebende Aufmerksamkeit« sei unverzichtbar, denn »[m]an erspart sich auf diese Weise eine Anstrengung der Aufmerksamkeit, die man doch nicht durch
viele Stunden täglich festhalten könnte« ( Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung, Bd. VIII, S. 377). Wer diese Winkelzüge nachvollziehen möchte, sollte Alain Abelhausers Artikel »Un chien de ma chienne« lesen, der in der dem Freud-Lager zuzurechnenden Zeitschrift Ornicar? erschienen ist.
Als armer Jugendlicher und kaum besser gestellter Student entdeckte ich Freud in den Taschenbuchausgaben verschiedener französischer Übersetzungen. Ich las Trois essais sur la théorie de la sexualité [ Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie ] von Blanche Reverchon-Jouve, der Lebensgefährtin des Dichters, sowie Introduction à la psychanalyse [ Einführung in die Psychoanalyse ] , Totem et tabou [ Totem und Tabu ] , Psychopathologie de la vie quotidienne [ Psychopathologie des Alltagslebens ] und Cinq leçons sur la psychanalyse [ Über Psychologie ] von Dr. Simon Jankélévitch, dem Vater des berühmten Philosophen, außerdem Ma vie et la psychanalyse, Essais de psychanalyse und Délire et rêves dans la »Gradiva« de Jensen [ Der Wahn und die Träume in W. Jensens »Gradiva« ] von Marie Bonaparte, einer engen Freundin Freuds. Es schien mir damals, dass diese Übersetzungen den korrekten Zugang zu Freuds Werk nicht verhinderten.
Doch ich will mir nicht vorwerfen lassen, ich hätte die beste vorliegende Übersetzung nicht gelesen. Sie umfasst zwanzig Bände und einen Glossar- und Indexband. Das Gesamtwerk habe ich zwischen Juni und Dezember 2009 gelesen. Wichtige Texte, die in dieser Werkausgabe fehlen, sind Sur la psychopathologie de la vie quotidienne (Band V) [ Zur Psychopathologie des Alltagslebens ], Le Trait d’esprit et sa relation avec l’inconscient (Band VII) [ Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten ] und L’Homme Moïse et la religion monotheiste (Band XX) [ Der Mann Moses und die monotheistische Religion ]. Diese habe ich in den zur Verfügung stehenden Taschenbuchausgaben gelesen. Sie enthielten einige affektierte Übersetzungen, zum Beispiel »désirance« anstelle von »désir«. Und aus dem Titel Le Mot d’esprit
et ses rapports avec l’inconscient von Marie Bonaparte wurde unter der Leitung von Jean Laplanche Le Trait d’esprit et sa relation avec l’inconscient. Jankélévitchs Psychopathologie de la vie quotidienne heißt in der neuen Übersetzung Sur la psychopathologie de la vie quotidienne, und man zitiert nicht mehr Anne Bermans Moïse et le monotheisme, sondern L’Homme Moïse et la religion monotheiste. Was natürlich alles ändert.
Wer Marie Bonapartes Ma vie et la psychanalyse [ Selbstdarstellung ] gelesen hat, weiß vielleicht nicht, dass er bereits das von Fernand Chambon übersetzte Sigmund Freud présenté par lui-même kennt. Und er hat darüber hinaus wahrscheinlich keine Ahnung, dass er auch die »Autoprésentation« (mit Anführungszeichen!) kennt, denn es handelt sich bei allen dreien um den gleichen Text, der zuerst 1925 als La Médecine du présent en autoprésentation erschien. Da kommen selbst gutgläubige Leser ins Grübeln. Der Text ist ein Monument der Selbstbeweihräucherung und sollte einmal mit den dazugehörigen Fußnoten herausgegeben werden, anhand derer sich Freuds selbst verfertigte Legendenbildung ablesen lässt, enthalten sie doch zahlreiche Unwahrheiten. Doch aus Sicht der dominierenden Hagiographie und
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