Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
ersten Weggefährten Freuds damals wohl nicht aufgefallen ist. In Jenseits
von Gut und Böse forderte Nietzsche klar und deutlich eine neuartige, nie da gewesene »Psychologie der Tiefe«, die man suchen und finden, falls nötig gar »erfinden« müsse. Sie sei »als Morphologie und Entwicklungslehre des Willens zur Macht zu fassen« ( Jenseits von Gut und Böse, § 23) – und hier soll wirklich keine Beziehung zur Psycho-Analyse als Matrize der Psychoanalyse bestehen?
Nietzsche hat dieser Frage nie einen eigenen Text gewidmet. Trägt man seine verstreuten Überlegungen zusammen, findet man viele Hypothesen, Eingebungen, Behauptungen, Hinweise und Ansichten, die später in höchstens durch die Magie der Neologismen veränderter Form im Werk Freuds auftauchen. In Menschliches, Allzumenschliches etwa wird der Gedanke vorgetragen, die Mutter sei der psychische Prototyp des Weiblichen, von dem aus jeder Mann seine Beziehung zum anderen Geschlecht konstruiere; Freud spricht von der Mutter als erstem Liebesobjekt. Wer keinen guten Vater habe, muss sich laut Nietzsche einen machen; Freud spricht in diesem Zusammenhang vom Ichideal. In Also sprach Zarathustra führt Nietzsche aus, dass der Traum der Ökonomie des Erwachens entspringe und dass der Sinn eines jeden Traums im Alltagsleben des Träumenden verborgen sei. Freud bezeichnet den Traum als Wächter des Schlafs. Der Fröhlichen Wissenschaft aber auch Jenseits von Gut und Böse zufolge gründet das Bewusstsein in einem triebbestimmten Unbewussten, das dem Wissen nicht zugänglich ist. Freud spricht hier vom psychischen Unbewussten. Die Genealogie der Moral berichtet von der dynamischen Rolle des Vergessens bei der Aufrechterhaltung der psychischen Ordnung; Freud nennt das Verdrängung. Nietzsches Gedanken über den Zusammenhang von asketischem Ideal und pathologischer Identität ähneln Freuds sexueller Ätiologie der Neurosen. Bei Nietzsche konstituiert sich die Seele durch die Triebe; Freud theoretisiert über die Libidoökonomie. Nietzsche beklagt die pathogene Rolle der Zivilisation, die über Moral und Religion die Triebe unterdrückt, das Leben massakriert und individuelles
wie kollektives Unbehagen auslöst. Für Freud ist dies die repressive Rolle der Zensur des Unbewussten und, nach dem Paradigmenwechsel in der zweiten Topik, die Arbeit des Über-Ich am Es zur Konstitution des Ich – ganz abgesehen von den analytischen Grundlagen in Das Unbehagen in der Kultur. Nietzsche thematisierte die Beteiligung der Selbstaufgabe an der Ökonomie der Grausamkeit; bei Freud geht es in diesem Zusammenhang um narzisstische Verletzungen und die Entstehung des Masochismus. Nietzsche macht sich über unterdrückte Triebe Gedanken, die andernorts in neuer Gestalt auftauchen; Freud spricht von Sublimierung. Im Antichrist wird schließlich der Hass auf den Körper in den Blick genommen; der christliche Aufruf zum Verzicht auf das Leben im Hier und Jetzt; es geht um Nihilismus und die Krankheit der westlichen Zivilisation. Freud kritisiert die dominierende Sexualmoral und die perverse Rolle der Religionen als kollektive Neurosen. Allein das Werk Nietzsches liefert uns also eine Vielzahl von Anlässen, der freudschen Kryptomnesie auf die Spur zu kommen.
IV.
So bedeutend wie Kopernikus und Darwin
»[M]ein Zutrauen zu meinem eigenen Urteile
sowie mein moralischer Mut [waren] nicht eben gering.«
Sigmund Freud, Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung
(Bd. X, S. 60)
»Ich bin, soviel ich weiß, nicht ehrgeizig.«
Sigmund Freud, Die Traumentstellung (Bd. II/III, S. 142)
Napoleon ernannte sich in Anwesenheit von Papst Pius VII. und vielen hochrangigen Persönlichkeiten selbst zum Kaiser, weil er niemand anderen für würdig erachtete, ihm das Schmuckstück auf den Kopf zu setzen. Freud bediente sich in einem kurzen Text von 1917 mit dem Titel Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse eines vergleichbaren Gestus. Er hatte den Artikel für eine ungarische Zeitschrift verfasst und kurz zuvor erfahren, dass er den Nobelpreis in diesem Jahr nicht erhalten würde.
Die im Titel erwähnte »Schwierigkeit« bezieht sich auf den affektiven, nicht auf den intellektuellen Hintergrund. Wenn die Psychoanalyse als Disziplin nicht so schnell, umfassend und dauerhaft erfolgreich war, wie Freud es wünschte; wenn sie sich nicht sofort, gänzlich und definitiv durchsetzte, so lag das ihm zufolge daran, dass sie der Menschheit eine Kränkung zufügte. Natürlich brachte Freud den
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