Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
sublimierter Form aus. Eigentlich liebte er die Mutter des jungen Mädchens, doch er schlief mit keiner der beiden. Seine Verlobte erhielt nur Briefe und blieb vorerst Jungfrau. Freud mochte die Sexualität, aber ohne Körperlichkeit, denn er wollte das Begehren für seine Mutter bewahren.
Von der ersten Begegnung mit seiner Zukünftigen (April 1882) bis zur Verlobung (27. Juni 1882) vergingen zwei Monate. Freud war sechsundzwanzig Jahre alt, lebte von geliehenem Geld, war arbeitslos und hatte im Jahr zuvor sein Medizinstudium beendet. Er hatte es sehr früh begonnen, schon mit siebzehn Jahren, doch erst mit fünfundzwanzig beendet. So hatte er deutlich länger als seine Kommilitonen gebraucht, nämlich acht statt der üblichen fünf Jahre. Von der Verlobung bis zur Hochzeit (standesamtlich am 13. September 1886, kirchlich einen Tag später) vergingen nochmals vier Jahre. Dreieinhalb davon verbrachten die Verlobten getrennt. Freud schrieb Martha fast täglich einen Brief.
In dem Briefwechsel begegnen wir einem sehr eifersüchtigen, äußerst besitzergreifenden Freud, der seine tyrannische Art auch noch rechtfertigte. Er befahl seiner Verlobten, sie solle ihre Cousins nicht mit Vornamen ansprechen. Er beschwor sie, alle Gelegenheiten zu vermeiden, bei denen sie junge Männer hätte kennen lernen können. Er erklärte ihr, die Rolle der Frau bestünde
darin, eine gute Ehefrau und Mutter zu sein und dem Ehemann zu gehorchen. Er hatte John Stuart Mills feministischen Text Die Hörigkeit der Frau übersetzt und teilte Martha mit, es handele sich um leeres Geschwafel. Am 2. August 1882 schrieb er ihr, er sehe sich gezwungen, ihr zu sagen, dass sie keine Schönheit sei. Damit mache er ihr zwar nicht gerade ein Kompliment, aber das sei auch nicht seine Stärke. Er erzählte Martha vom Leben in Paris und berichtete, er könne seine Karriere beschleunigen, wenn er eine von Charcots Töchtern verführe; und er vertraute Martha seine Sehnsucht nach Reichtum und Ruhm an. Zu diesem Zeitpunkt lebte er noch in ärmlichen Verhältnissen.
Sind der Verzicht auf Sexualität und die persönlichen Neurosen der Ursprung seiner Theorie über die sexuelle Ätiologie der Neurosen und die Sublimierung? Es wäre möglich, denn in seinem Text geht es darum, dass eine unbefriedigte Sexualität, verdrängte Triebe, eine Libido, die sich nicht entfalten, und ein Körper, der seine Sinnlichkeit nicht ausdrücken kann, Gründe für Störungen wie Psychose, Neurose, Paranoia oder Hysterie sind. Jede Psychopathologie ist laut Freud auf die Unterdrückung des Geschlechtstriebs zurückzuführen.
Freuds Aufsatz Die »kulturelle« Sexualmoral und die moderne Nervosität aus dem Jahr 1908 scheint zunächst ein Pamphlet gegen die puritanische Moral der Zeit zu sein. Doch auf den zweiten Blick erweist er sich als kaum verschleierter autobiographischer Protest gegen alles, was ihm selbst schwer fiel. Mit siebenunddreißig Jahren erzählte er Fließ in einem Brief vom 20. August 1893, dass er mit seiner Frau in sexueller Abstinenz lebe. Freud mochte weder den Koitus interruptus noch Präservative (weil diese seine ohnehin geringe sexuelle Leistungsfähigkeit einschränkten), und er wollte kein sechstes Kind. Später bekam er es dank eines kleinen Unfalls mit Anna dann doch.
Wahrscheinlich kam Freud nach diesem letzten Beitrag zum Fortbestand der Spezies auf andere Weise mit seiner Sexualität zurecht. Die Onanie spielte in Freuds Leben wohl eine große
Rolle, und er leitete von ihr viele Neurosen ab. Er schlief nicht mit seiner Verlobten, selten und später gar nicht mehr mit seiner Frau und lebte dann wahrscheinlich lange Zeit eine einsame Sexualität. Schließlich beging er mit seiner Schwägerin Ehebruch. So hatte die inzestuöse Fantasie lange und unbehelligt von der Realität Bestand.
Der Text über die herrschende »kulturelle« Sexualmoral beklagt, dass die Gesellschaft keine Möglichkeit biete, von der Fortpflanzung unabhängige und nur auf Genuss ausgerichtete sexuelle Erfüllung zu erleben. In einer Paarbeziehung sei die Sexualität auf Monogamie und Ehe beschränkt. Die sogenannte normale Sexualität sei nur von kurzer Dauer, sodass die Frauen sie in der Folge auf ein neues Objekt projizierten: ihr Kind. Hier sprach Freud als verheirateter Mann und Familienvater natürlich aus Erfahrung.
Wir belügen uns selbst und die anderen, wenn wir glauben, dass die Sexualität einen anderen Zweck als die Selektion des virilsten Partners hat, der am
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