Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
Homosexualität zu diskutieren. Er schlug Fließ auch ein gemeinsames Buch mit dem geplanten Titel Die menschliche Bisexualität vor – daraus wurde später Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, das nur unter Freuds Namen erschien. Freud beanspruchte für sich, die Bisexualität entdeckt zu haben, obwohl sie eigentlich Fließ’ Idee gewesen war. Und an der Frage der Bisexualität zerbrach letztlich auch die Freundschaft. Fließ zog sich als Erster zurück, und als sich das Klima zwischen den beiden verschlechterte, gab Freud vor, schon früher erste Risse in der Beziehung bemerkt zu haben.
In dem bedeutsamen Brief vom 7. August 1901 erinnerte Freud Fließ an eine alte Geschichte: Breuer hatte Fließ’ Ehefrau einst suggeriert, es sei gut, dass Freud in Wien und Fließ in Berlin arbeite, da Freuds Nähe das Ende für Fließ’ Ehe bedeutet hätte. Freud warf dem Freund vor, dieser These zuzustimmen. Fließ wiederum hatte Freud vorgehalten, sich dessen Theorie über Bisexualität zu eigen gemacht zu haben. Freud fuhr fort: »Wenn ich so einer bin, so wirf mein Alltagsleben nur ungelesen in den Papierkorb. Es ist voll von Beziehungen auf Dich, manifesten, zu denen Du
das Material geliefert, und versteckten, bei denen das Motiv auf Dich zurückgeht. Das Motto ist auch von Dir geschenkt. Von allem Bleibenden des Inhaltes abgesehen, kann es Dir Zeugnis für die Rolle ablegen, die Du bei mir bis jetzt gespielt hast.« ( Briefe an Wilhelm Fließ, S. 492)
Freud spielt auf ein seltsames Geister-Zitat aus Goethes Faust an, das er als Epigramm gewählt hatte. War Fließ mit dem Geist gemeint? Wahrscheinlich. Denn weshalb hätte Freud ihn sonst bitten sollen, das Zitat verwenden zu dürfen? Weil Freud Fließ’ Briefe vernichtete, wird man nie erfahren, was es mit dieser Geschichte auf sich hat. Doch in den letzten Briefen an Fließ zeigt Freud sich als schüchterner Liebhaber, der seinem Freund sagt, er sei überall in seiner Arbeit zu finden – und damit auch in ihm selbst.
Anna musste jedenfalls nicht Wilhelm heißen, da sie – wie alle Frauen – mit einem verkümmerten Penis geboren wurde (siehe Über die weibliche Sexualität, 1931). Doch wieso bekam sie den Namen Anna? Seltsamerweise scheint Anna, deren Zeugung ein Unfall war, als Einzige nicht unter das ödipale Prinzip subsumiert worden zu sein. Denn in Freuds Biographie spielte der Name Anna eine Rolle. Wir werden noch sehen, welche Annas dies im Einzelnen betrifft. Bemerkenswert ist zunächst, dass Annas Geburt beinahe mit der Geburt der Psychoanalyse zusammenfiel. Das Mädchen kam am 3. Dezember 1895 vorzeitig zur Welt, und am 30. März 1896 tauchte der Begriff Psycho-Analyse erstmals in Freuds für Charcot und dessen Schüler (auf Französisch) geschriebenem Artikel L’Hérédité et l’Étiologie des Névroses auf. Ein Brief an Fließ vom 6. Februar 1896 erläutert, dass der Text in den drei Monaten vor dem Verfassen dieses Briefes entstanden war – also zwischen November 1895 und Februar 1896. In dieser Zeit wurde Anna geboren und fortan von Freud zeitlebens überhöht.
Die erste abwesende Anna, an die der Vorname von Freuds
Tochter gemahnen könnte, war die berühmte Anna O. In Wahrheit hieß sie, wie schon erwähnt, Bertha Pappenheim, und durch ihren Fall entdeckten Breuer und Freud die Psychoanalyse. Anna war also das Signum der Entstehung der Psychoanalyse, was mit dem Auftreten der Psycho-Analyse und dem Schicksal des kleinen Mädchens zusammenfiel, welches zur Hüterin des psychoanalytischen Tempels, zur Hohepriesterin, zur Pythia, zur Vestalin, zur Jungfrau und zur keusch-ödipalen Inkarnation heranwachsen sollte. Zugleich spielte sie die hagiographische Polizei und qua Vollmacht die Autorin der Doppellegende von ihrem Vater und dessen literarischer Kreatur.
Wer war Bertha Pappenheim oder Anna O. laut Freuds Legende? Sie war Breuers erste Patientin, die Heldin von Studien über Hysterie, die von manch kritischem Historiker ohne Zögern als »erste Lüge der Psychoanalyse« bezeichnet wird. Erinnern wir uns: Im November 1880 litt die einundzwanzigjährige Patientin an deutlichen Krankheitssymptomen wie Kopfschmerzen, Schielen, Sehproblemen, einer Lähmung der Halsmuskeln, verschiedenen Kontraktionen und Taubheiten, Halluzinationen (überwiegend von schwarzen Schlangen) und Phobien (vor Wasser und dem Einstürzen der Wände). Sie hatte Sprachschwierigkeiten, war zeitweise stumm, vergaß ihre Muttersprache, mischte sie mit Fremdsprachen,
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