Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
Anna O.
Wir gehen also davon aus, dass Anna nicht den Vornamen der unbekannten Tochter eines noch unbekannteren Lehrers trägt, über den wir historisch rein gar nichts wissen. Es ist vielmehr wahrscheinlich, dass Anna unter den düsteren Vorzeichen eines zynischen, verlogenen, frei erfundenen Gedankengebäudes das
Licht der Welt erblickte. Was wäre, wenn Freud diesen möglichen Grund für die Namensgebung seiner Tochter geheim gehalten hätte, wohl wissend, dass er seiner Legendenbildung zuwidergelaufen wäre, und wenn er zu diesem Zweck die Tochter eines Lehrers erfunden hätte, welcher keinerlei Spuren in der Geschichte hinterlassen hat? Eine verlockende Hypothese.
Es gibt noch einen weiteren möglichen Ursprung des Vornamens Anna. Er passt zu Freuds inzestuöser Neigung und er schließt die voranstehende Hypothese über Anna O. nicht aus. Denn Anna hieß auch Freuds eigene Schwester. Freud berichtete, sie als Rivalin empfunden zu haben. Schon sein kleiner Bruder Julius war ein Konkurrent gewesen, starb jedoch bereits am 15. April 1858. Bei Julius’ Begräbnis auf dem jüdischen Friedhof war Amalia schon mit Anna schwanger. So wurde der eben verschwundene Rivale durch eine Konkurrentin mit schicksalhaftem Namen ersetzt.
Freud war zweieinhalb Jahre alt, als seine Mutter mit Anna schwanger war. Er wusste natürlich noch nichts über die Entstehung eines Kindes. Doch die Erinnerung an das »eingekastelte« Kindermädchen, die während des Wochenbetts verschwundene – also wie das Kindermädchen »eingekastelte« – und später schlank zurückgekehrte Mutter und die durch den Familienroman ausgelöste Fantasie, der alte Vater könne nicht der Erzeuger des Kindes sein, sondern der junge Halbbruder Philipp müsse die Mutter geschwängert haben – das alles platzierte Anna im Zentrum eines bemerkenswerten psychischen und biographischen Dispositivs. Wie konnte Freud (oder sein Unbewusstes) diese Anna verschweigen, wenn es um eine Erklärung für den Namen seiner eigenen Tochter ging?
Indem er Anna, seiner letzten, nicht geplanten Tochter, den Namen der eigenen Schwester gab, stellte Freud sich an den Platz seines Vaters Jakob, den Erzeuger Annas. Er verkörperte – buchstäblich – seinen persönlichen Familienroman. Indem er die Geburt seiner Tochter mit der Geburt seines (nach eigenem Bekunden)
anderen Kindes, der Psychoanalyse, zusammenfallen ließ, betonte er die autobiographische Komponente dieser neuen Disziplin, die er stets als Wissenschaft und nie als literarisches Phänomen verstanden wissen wollte. Indem er ihr den Vornamen der Anna O. gab, jener Hysterikerin, deren Fall zum Gründungsmoment der Psychoanalyse wurde und Anlass zu so vielen Lügen gab, positionierte Freud seine Tochter unter dem ödipalen Damoklesschwert.
VII.
Ein ödipales Leben
»Es scheint, als habe es – wie diverse Indizien
nahe legen – eine komplexe prägenitale Beziehung
zwischen Freud und seiner Mutter gegeben;
eine Beziehung, die er nie wirklich analysiert hat.«
Max Schur, Brief an Ernest Jones, 6. Oktober 1955
Die Psychoanalyse wurde also von einem Mann erfunden, der mit ihrer Hilfe seine dunklen Seiten besser ertragen konnte, von denen wir ein immer deutlicheres Bild bekamen, je weiter wir die freudschen Familienstrukturen entwirren konnten. Ein alter Vater war in dritter Ehe mit einer jungen Frau verheiratet; in der Patchworkfamilie lebten drei Generationen zusammen; die Vaterschaft des alten Erzeugers schien fraglich; in Freuds Fantasie nahm der Stiefbruder den Platz des Vaters ein; der älteste Sohn wurde zum achten Weltwunder erklärt; er empfand den jüngeren Bruder als Rivalen und verspürte bei dessen frühem Tod Schuldgefühle; die Konkurrenzsituation wiederholte sich mit den anderen Geschwistern; er begehrte die stark auf ihn bezogene Mutter sexuell und nahm somit auch den Vater als Rivalen wahr. In diesem Kontext bewegte sich Freud seit seiner frühesten Kindheit.
Und in diesem Zusammenhang steht auch die seltsame inzestuöse Beziehung, die Freud zu seinen Töchtern pflegte, wie schon das Beispiel Sophies gezeigt hat. So besehen ist die Psychoanalyse eine Autobiographie, deren Autor gerade diesen Gedanken ablehnte, was sich auch in seiner erklärten Zurückweisung der Philosophie im Allgemeinen und Nietzsches im Besonderen zeigte. Und doch bewegte Freud sich auf philosophischem Terrain und wollte unbedingt als Wissenschaftler wahrgenommen werden.
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