Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
König Lear den Tod seiner Tochter Cordelia nicht mehr verhindern. Der Vorhang fällt, als der verzweifelte Vater die tote Tochter in den Armen hält.
Wir wissen nicht, ob es in Freuds Familie Entsprechungen zum verräterischen Verhalten der Töchter dem Vater gegenüber, der Rolle der Schwiegersöhne, den metaphorischen Vergiftungen und symbolischen Selbstmorden gab. Doch um 1912 ereigneten sich in Freuds Familie eine Reihe von Psychodramen, die mit einer Tragödie im Allgemeinen und mit Shakespeares Version im Besonderen vergleichbar sind. Obwohl wir keine sicheren Anhaltspunkte für die Rollenverteilung haben, können wir ohne großes Risiko Anna mit Cordelia, der prüden, zur Schmeichelei unfähigen Tochter vergleichen, die erst ins Exil geschickt wurde (die dubiosen acht Monate in Italien?) dann doch das Königreich des Vaters erbte – und schlussendlich mit einer Art symbolischem Tod dafür bezahlte.
Wie immer münzte Freud auch dieses biographische Fragment in eine Theorie um. 1913 veröffentlichte er Das Motiv der Kästchenwahl, in dem es unter anderem um die drei Töchter von König Lear geht. Freud spricht dort über Cordelia, die mehr und mehr als Anna erscheint, und bezeichnet sie als Todesgöttin! Die drei Schwestern verkörpern demnach die drei Nornen, Parzen oder Moiren und Anna/Cordelia ist jene, die das Lebensband zerschneidet.
Doch wie konnte Freud damit leben, dass Anna den Tod verkörperte? Indem er einen psychoanalytischen Haken schlug, der uns einiges über die Kunst des Sophismus und die Rhetorik des Zauberers Sigmund Freud lehrt: Er stellte als unumstößliche Gewissheit hin, »daß es Motive im Seelenleben gibt, welche die Ersetzung durch das Gegenteil als sogenannte Reaktionsbildung
herbeiführen« ( Das Motiv der Kästchenwahl, Bd. X, S. 33). Der Tod war in diesem Fall also – die Liebe!
Freud mochte durchaus recht haben, wenn er einige Zeilen später verkündete: »Es ist kein stärkerer Triumph der Wunscherfüllung denkbar.« (ebd., S. 35) Im alltäglichen Sprachgebrauch würde man das als Verwechslung von Wunsch und Wirklichkeit bezeichnen und tatsächlich ist dies ein besonders gutes Beispiel für die »Wunscherfüllung«: Freud setzte Lears drei Töchter mit den eigenen gleich, insbesondere Cordelia mit Anna. Er suchte in Mythen, Märchen und Literatur nach Belegen für seine These und identifizierte schließlich seine Tochter mit dem Tod. Dass er diese Gleichsetzung im selben Atemzug ablehnte, ist nicht in wissenschaftlicher, aber in biographischer Hinsicht verständlich. So verkündete er, unter gewissen Umständen sei der Tod eben nicht der Tod, viel besser: er sei die Liebe.
Schließlich legte Freud seine Deutung vor, die Imaginäres über Reales und eine eigenwillige Interpretation über die einfache Wahrheit stellte. König Lear sei gar nicht König Lear, sondern ein alter, sterbender Mann. Seine drei Töchter seien nicht seine drei Töchter, sondern drei verschiedene Arten des Frauseins. Auch hielte der Vater nicht die tote Tochter im Arm, denn: »Wenn man die Situation umkehrt [ sic ], wird sie uns verständlich und vertraut.« (ebd., S. 36) Und zwar aufgrund weiterer psychoanalytischer Entdeckungen wie »Wunschverwandlung« (ebd., S. 37) oder »regressive Bearbeitung« (ebd.), also neuen Varianten der »Reaktionsbildung« und der »Wunschumkehrung«.
Wenn die drei Königstöchter nicht die waren, die sie zu sein schienen, wer waren sie dann? Freud übte sich in symbolischem Denken – das kein wirkliches Denken ist – und schrieb, sie verkörperten die »drei für den Mann unvermeidlichen Beziehungen zum Weibe […]: Die Gebärerin, die Genossin und die Verderberin.« (ebd.) War das die psychoanalytische Version der Heiligen und der Hure? Freud führte aus: »Oder die drei Formen, zu denen sich ihm das Bild der Mutter im Laufe des Lebens wandelt:
Die Mutter selbst, die Geliebte, die er nach deren Ebenbild gewählt, und zuletzt die Mutter Erde, die ihn wieder aufnimmt. Der alte Mann aber hascht vergebens nach der Liebe des Weibes, wie er sie zuerst von der Mutter empfangen; nur die dritte der Schicksalsfrauen, die schweigsame Todesgöttin, wird ihn in ihre Arme nehmen.« (ebd.)
Als Freud bereits vom Krebs gezeichnet war und den Tod vor Augen hatte, erinnerte er seinen Arzt an dessen Versprechen, ihm zum gegebenen Zeitpunkt eine tödliche Injektion zu verabreichen, und sagte ihm, er solle zuvor Anna fragen, ob der rechte Moment gekommen sei. Für ihren eigenen
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