Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
recht, denn sie befreite ihn von der realen analytischen Ontogenese! Umso mehr, als Freud erklärtermaßen nicht die Heilung der leidenden Tochter in den Vordergrund stellte und ihr ein Sexualleben jenseits der Onanie ermöglichen wollte, sondern sich primär um den Fortschritt der Wissenschaft – seiner Wissenschaft – sorgte.
Dabei hätte etwas Selbstkritik genügt, um den eigenen Anteil an den Fantasien seiner Tochter zu erkennen. Freud verhielt sich ihr gegenüber eifersüchtig, besitzergreifend und tyrannisch. Als sie mit neunzehn Jahren zu Ernest Jones nach London gehen wollte, verstärkte Freud sein kastratives Verhalten. Er informierte Jones, dass es mit Anna nur eine gleichberechtige, rein freundschaftliche Beziehung geben könne. Obwohl Anna selbst in diesem Zusammenhang weder Gefühle noch Sexuelles thematisiert hatte, warnte Freud, sie müsse noch mehr Lebenserfahrung
sammeln, bevor sie eine ernsthafte Beziehung erwägen könne. Eine solche sei frühestens in fünf Jahren möglich – also wenn sie vierundzwanzig wäre! In den Briefen an Jones, die der Reise vorausgingen, nannte Freud Anna sein »einziges Mädchen«. Nebenbei bemerkt waren seine Töchter Mathilde und Sophie 1914 siebenundzwanzig und einundzwanzig Jahre alt.
Anna gegenüber wurde Freud sehr deutlich: Jones sei mit fünfunddreißig Jahren fast doppelt so alt wie sie selbst und brauche eine Frau, die sich mit dem Leben besser auskenne. Und am 16. Juli 1914 schrieb er an Anna, als Sohn armer Eltern habe Jones sich »herausarbeiten müssen […] und versäumt, den Takt und die feinen Rücksichten zu erlernen.« (Freud/Anna Freud, Briefwechsel, S. 125) An Jones wiederum schrieb er über Anna am 22. Juli 1914: »She does not claim to be treated as a woman, being still far away from sexual longings and rather refusing man.« [Sie verlangt nicht, als Frau behandelt zu werden, denn sexuelle Begierden sind ihr noch fremd, und Männer lehnt sie eher ab.] ( Complete Correspondence of Freud/Jones, S. 294) Worauf Jones am 27. Juli 1914 mit einer Lobrede auf Anna reagierte und prophetisch äußerte, Anna werde »surely be a remarkable woman later on, provided that her sexual repression does not injure her.« [später bestimmt eine bemerkenswerte Frau, vorausgesetzt ihre sexuelle Zurückhaltung schadet ihr nicht.] (ebd., S. 295)
Anna strickte zu jener Zeit zwanghaft und wollte Lehrerin werden. Noch vor dem Beginn ihrer Analyse hatte sie im Herbst 1915 eine Fantasie, die sie ihrem Vater später anvertraute: Sie habe kürzlich einen Traum gehabt, in dem Freud ein König und sie eine Prinzessin gewesen sei, die durch allerlei politisches Ränkespiel auseinandergetrieben werden sollten. Das sei unangenehm, gar niederschmetternd gewesen. Damals war sie zwanzig und ihr Vater fast sechzig Jahre alt.
1916, als sie mit den Debatten der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung bereits vertraut war, hörte sie auch die Vorlesungen ihres Vaters an der Universität, die später unter dem Titel Vorlesungen
zur Einführung in die Psychoanalyse erscheinen sollten. Regelmäßig führte sie mit Freud Experimente zur Telepathie durch: Abwechselnd versuchten sie, die intimsten Gedanken des jeweils anderen zu lesen – der denkbar äußerste Grad der Vereinigung zweier Menschen. Nachdem sie die Vorlesungen ihres Vaters gehört hatte, gab sie das Berufsziel Lehrerin auf und beschloss, Psychoanalytikerin zu werden. Mit dreiundzwanzig Jahren begann sie eine Analyse.
Als Freud entschied, seine Tochter interessiere sich nicht für Männer, und als er ihr offiziell verbot, ein eigenständiges Sexualleben zu führen, trieb der Autor von Die »kulturelle« Sexualmoral und die moderne Nervosität sie in die Arme von Frauen. Das war ein probates Mittel, um sie für sich zu behalten, zu verhindern, dass sie von einem anderen Mann beschmutzt würde, und sie zur unsterblichen Todesgöttin zu machen, die sich ganz dem Leben ihres Vaters widmete.
Freud wünschte sich die Freundschaft Annas mit Lou Andreas-Salomé. Am 3. Juli 1922 schrieb er der Freundin Nietschzes, Anna habe bislang mit ihren Freundinnen nicht viel Glück gehabt. Er wünsche sich manchmal, sie mit einem guten Mann verbunden zu sehen, und manchmal habe er Angst, sie zu verlieren. Drei Jahre später, am 10. Mai 1925, wurde er Lou gegenüber nochmals sehr deutlich. Er befürchtete, Anna könnte unter der Verdrängung ihrer Sexualität leiden. Es gelinge ihm nicht, sie von sich zu befreien, und er bekomme dabei
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