Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
vorbei zu schleppen.
Erschwerend kommt hinzu, dass wir es ungefähr vier Jahrzehnte vor dieser grandiosen Erfindung geschafft haben, einen Mann auf den Mond zu bugsieren.Man denke an die intellektuelle Leistung, die erforderlich ist, um jemanden in den Weltraum zu schicken, und den absolut zu vernachlässigenden Einfluss, den dieser Aufwand auf mein Leben hat; und man vergleiche das mit der Milchsäure in meinen Armen, den Kreuzschmerzen, den wund gescheuerten Handflächen und der überwältigenden Hilflosigkeit, die man angesichts eines langen Korridors empfindet. Es geht hier um etwas extrem Folgenreiches, aber auch äußerst Triviales: eine ganz schlichte Technik.
Aber die Technik erscheint erst im Nachhinein trivial, im Vorgriff dagegen durchaus nicht.
All die brillanten, normalerweise recht zerzaust und zerknittert auftretenden Geister, die Konferenzen in aller Welt besuchen, um über Gödel, Schmödel, die Riemann’sche Vermutung, Quarks und Schmarks nachzudenken, mussten ihre Koffer durch Flughafenterminals tragen, und nie kamen sie auf den Gedanken, ihre Gehirnkapazität in den Dienst eines unbedeutenden Transportproblems zu stellen. (Ich erwähnte bereits, dass in der Welt der Intellektuellen »schwierige« Ableitungen honoriert werden, im Unterschied zum praktischen Leben, wo Einfachheit nicht bestraft wird.) Und selbst wenn diese brillanten Köpfe ihre wahrscheinlich überdurchschnittliche Gehirnkapazität auf ein so offensichtliches und triviales Problem gerichtet hätten, wären sie sehr wahrscheinlich zu keinem Ergebnis gekommen.
Man kann daraus einiges über die Art und Weise lernen, wie wir die Zukunft kartographieren. Den Menschen mangelt es an Fantasie; wir können uns nicht vorstellen, wie die wichtigen Dinge von morgen aussehen. Wir brauchen den Zufall, der uns häppchenweise mit Entdeckungen füttert – deswegen ist Antifragilität so notwendig.
Die Geschichte des Rads ist sogar noch beschämender als die des Koffers: Wir meinen immer, die Ureinwohner Mittelamerikas hätten das Rad nicht erfunden. Aber das stimmt nicht. Sie hatten Räder. Allerdings befanden sich diese Räder an Kinderspielzeugen. Es war so ähnlich wie die Sache mit dem Koffer: Die Mayas und die Zapoteken machten nicht den Schritt zur Anwendung. Sie setzten Unmengen an menschlicher Mühe, an Mais, an Milchsäure ein, um riesige Steinplatten zu den Orten zu bewegen, wo sie ihre Pyramiden errichteten – über Ebenen, die für Hand- und Pferdewagen ideal gewesen wären. Teilweise rollten sie die Steine auf Baumstämmen vorwärts. Gleichzeitig schoben ihre Kinder ihr Spielzeug über die glatten Lehmböden (aber vielleicht war nicht einmal das der Fall, es kann auch sein, dass diese Spielzeuge nur als Grabbeigaben dienten).
Dasselbe gilt für die Dampfmaschine. Die Griechen besaßen eine funktionierende Version, die lediglich dem Zeitvertreib diente: die von Heron von Alexandria beschriebene Aeolipile, eine Turbine, die sich dreht, wenn sie erhitzt wird. Allerdings musste erst die Industrielle Revolution kommen, damit die Menschen diese ältere Entdeckung wirklich entdeckten.
So wie große Genies sich ihre Vorläufer erfinden, erschaffen sich praktische Neuerungen ihre theoretische Abstammung.
Im Prozess der Entdeckung und ihrer Anwendung ist ein hinterhältiges Moment am Werk – etwas, das gemeinhin als Evolution bezeichnet wird. Wir werden gelenkt von kleinen (oder großen) zufälligen Veränderungen – Veränderungen, die zufälliger sind, als wir es uns eingestehen. Wir schwingen große Reden, haben aber nur selten eine Ahnung von der Optionalität der Dinge, abgesehen von einigen wenigen Visionären unter uns. Wir brauchen den Zufall, der uns aus der Klemme hilft – und eine doppelte Dosis Antifragilität. Denn Zufälligkeit spielt auf zwei Ebenen eine wichtige Rolle: auf der Ebene der Erfindung und auf der der Anwendung. Ersteres überrascht wenig, obwohl die Rolle des Glücks häufig heruntergespielt wird, vor allem, wenn es um eine Erfindung geht, die man selbst gemacht hat.
Aber ich habe mein ganzes Leben gebraucht, um auf den zweiten Punkt zu kommen: Die Anwendung folgt nicht notwendigerweise direkt auf eine Erfindung. Auch hier spielen Glück und Umstände eine Rolle. Die Geschichte der Medizin ist voll von Beispielen für die Entdeckung eines Heilmittels, auf die dann erst sehr viel später die Anwendung folgt, als handelte es sich dabei um zwei vollständig voneinander abgetrennte Unternehmungen, wobei die
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