Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Entscheidungsfindungen auf Seiten der Wähler. Aber könnte Demokratie nicht auch ein zufälliges Nebenprodukt von etwas ganz anderem sein, die Nebenwirkung des Umstands, dass Menschen aus völlig obskuren Gründen gern ihre Stimme abgeben, so wie Menschen sich gern zu etwas äußern, weil sie sich gern zu etwas äußern? (Ich habe diese Frage einmal bei einer Konferenz im Fach Politikwissenschaft gestellt, ich erntete lediglich ausdruckslose stumpfe Blicke, nicht einmal ein Lächeln.)
Kapitel 14
Zwei Paar Stiefel
Grünholz: eine Variation von »blau« – Der Verlauf des Pfeils der Entdeckung – Die Verpflanzung des Irak in die Mitte von Pakistan – Prometheus schaute nie zurück
Ich verfasse diese Zeilen an einem Ort, der äußerst geeignet ist, sich über den Pfeil des Wissens Gedanken zu machen: in Abu Dhabi, einer Stadt, die, üppig genährt von den Ölreserven des Landes, aus der Wüste emporschoss.
Es bereitet mir Unbehagen, die riesigen Universitätsgebäude zu sehen, die mit den Einkünften aus Ölgeschäften errichtet wurden. Dabei verfolgte man die Vision, Ölvorräte könnten in Wissen verwandelt werden, und man müsste dafür lediglich Professoren von namhaften Universitäten anwerben und den eigenen Nachwuchs in den Bildungsprozess einfädeln (oder besser gesagt: Man wartet darauf, dass der eigene Nachwuchs das Bedürfnis verspürt, die Universität zu besuchen – viele Studenten in Abu Dhabi, wo es keine Studiengebühren gibt, kommen aus Bulgarien, Serbien oder Makedonien). Noch besser: Mit einem einzigen Scheck kann eine ganze Hochschule aus Übersee importiert werden, etwa (neben vielen anderen) die Sorbonne und die New York University. In wenigen Jahren werden also die Angehörigen der dortigen Gesellschaft die Früchte einer gewaltigen technologischen Verbesserung ernten.
Das alles wäre ja eine vernünftige Investition, wenn man der Überzeugung zustimmen könnte, dass akademisches Wissen wirtschaftlichen Wohlstand erzeugt . Allerdings ist das eine Überzeugung, die sehr viel stärker auf Aberglauben als auf Empirie beruht. Man erinnere sich an die im fünften Kapitel beschriebenen Verhältnisse in der Schweiz, wo das durchschnittliche Schulbildungsniveau vergleichsweise niedrig ist. Ich frage mich, ob mein Unbehagen von dem Eindruck herrührt, dass diese Wüstenstämme vom Establishment ihres Geldes beraubt werden – einem Establishment, das ihnen ihre Ressourcen ausgesaugt und auf die Verwalter westlicher Universitäten umverteilt hat. Der Wohlstand der Einheimischen stammte aus den Ölreserven, nicht aus irgendeinem beruflichen Know-how. Ich bin daher auch überzeugt, dass die Ausgaben des Landes für Bildung vollkommen nutzlos sind, nichts weiter als ein gewaltiger Ressourcentransfer (anstatt ihre Antifragilität auszunutzen, indem sie ihre Bürger zwingen, ihr Geld auf natürliche Weise, angepasst an die Lebensumstände, zu verdienen).
Wo sind die Stressoren?
Etwas fehlt im Abu-Dhabi-Modell. Es kommen keine Stressoren darin vor.
Man erinnere sich an die Worte Senecas und Ovids zu dem Umstand, dass Klugheit aus Not und Erfolg aus Schwierigkeiten entsteht; viele Variationen dieser Wahrheit, die aus dem Mittelalter stammen (etwa necessitas magistra von Erasmus), sind heute noch sprichwörtlich: »Not ist die Mutter der Erfindung«, »Aus Schaden wird man klug« und noch einige mehr. Die beste Formulierung stammt wieder einmal vom Meisteraphoristiker Publilius Syrus: »Armut führt zu Erfahrungen« ( hominem experiri multa paupertas iubet ). Aber die Vorstellung taucht in der einen oder anderen Form schon bei zahlreichen Autoren der Antike auf, etwa bei Euripides, Pseudo-Theoktitus, Plautus, Apuleius, Zenobios, Juvenal, und wird heute natürlich unter dem Label »posttraumatisches Wachstum« gefasst.
Wie sich diese alte Weisheit auswirkt, erfuhr ich in einer Situation, die derjenigen in Abu Dhabi konträr entgegengesetzt ist. Amioun, meine levantinische Heimatstadt, wurde während des Krieges geplündert und evakuiert, die Einwohner zerstreuten sich ins Exil über den gesamten Planeten. Fünfundzwanzig Jahre später war die Stadt, nachdem sie sich aus eigener Kraft wieder hochgearbeitet hatte, so reich wie zuvor: Mein Haus, das im Krieg zerstört wurde, ist jetzt größer als vor dem Krieg. Als mein Vater mir die vielen neu gebauten Villen in der ländlichen Umgebung zeigte und sich über all die Neureichen beklagte, sagte er zu mir: »Wenn du hiergeblieben wärst, wäre aus dir
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