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Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Titel: Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nassim Nicholas Taleb
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Augen, die samstagabends im Smoking in der Oper auftauchen, Sommeliers das Fürchten lehren und mittwochnachmittags Tangokurse besuchen. Und verständliches Englisch sprechen. Doch von all dem keine Spur.
    Mein erster Arbeitstag eröffnete mir die völlig neue Welt der Realität. Der Devisenhandel wurde damals hauptsächlich von Italoamerikanern aus New Jersey und Brooklyn bestritten. Das waren einfache Leute von der Straße, die irgendwann ihre Laufbahn im Hinterzimmer einer Bank mit der Ausführung von telegrafischen Überweisungen begonnen hatten und sich im Zuge der Erweiterung und Explosion des Markts, mit der Ausdehnung des Geschäftsverkehrs und den frei schwankenden Wechselkursen zu Tradern und wichtigen Personen im Geldgeschäft entwickelt hatten. Und reich geworden waren.
    Der erste Experte, mit dem ich mich unterhielt, war ein Typ namens B. Irgendwas-mit-Vokal-am-Ende in einem maßgeschneiderten Anzug von Brioni. Man hatte mir mitgeteilt, er sei der weltweit bedeutendste Trader für Schweizer Franken, seinerzeit eine Legende in seiner Sparte – er hatte den Dollarzusammenbruch in den 1980er Jahren vorhergesagt und kontrollierte immense Geldmittel. Aber bereits nach wenigen Worten wurde klar, dass er nicht wusste, wo auf der Landkarte die Schweiz zu verorten war – in meiner Blauäugigkeit hatte ich angenommen, er komme ursprünglich aus der italienischsprachigen Schweiz, aber er wusste noch nicht einmal, dass es in der Schweiz Menschen gibt, die Italienisch sprechen. Er war nie da gewesen. Als mir klar wurde, dass er durchaus keine Ausnahme darstellte, brach ich innerlich fast zusammen, denn ich sah vor meinem inneren Auge, wie sich all die Jahre des Studiums einfach in nichts auflösten. Noch am selben Tag hörte ich auf, Wirtschaftsmeldungen zu lesen. Eine Zeitlang wurde mir von diesem Prozess der »Deintellektualisierung« immer wieder regelrecht übel – womöglich habe ich mich bis heute nicht davon erholt.
    Wenn ich es in New York mit Arbeitern zu tun hatte, dann begegneten mir in London Leute, die noch eine Klasse tiefer standen und noch mehr Erfolg hatten. Die Akteure waren alle Cockneys, also noch etwas weiter entfernt von der Gemeinschaft Sätze bildender Lebewesen. Sie stammten aus East London: extrem bodenständige Männer mit einem unverwechselbaren Akzent, die ein ganz eigenes Zählsystem verwendeten. Fünf ist »Lady Godiva« oder »ching«, fünfzehn ist ein »Commodore«, fünfundzwanzig ein »Pony« und so weiter. Ich musste Cockney lernen, damit ich mich überhaupt unterhalten konnte, überwiegend aber, um mit meinen Kollegen in den Pub gehen zu können, wenn ich in London war; damals waren die Trader in London fast jeden Tag um die Mittagszeit schon betrunken, vor allem freitags, bevor die Börse in New York öffnete. »Bier verwandelt dich in einen Löwen«, erklärte mir einer von ihnen, als er vor der Eröffnung der New Yorker Börse noch schnell sein Glas leertrank.
    Am komischsten war es immer, über Lautsprecher die transatlantischen Gespräche zwischen den Leuten aus dem New Yorker Viertel Bensonhurst und den Cockney-Brokern mitzuverfolgen, vor allem wenn der Typ aus Brooklyn sich richtig Mühe gab, einen gewissen Cockney-Akzent zustande zu bekommen (diese Cockneys sprachen streckenweise nicht ein Wort Standard-Englisch mehr).
    Auf diese Weise lernte ich die Lektion, dass Preis und Realität, wie Wirtschaftswissenschaftler sie sehen, ganz und gar nicht dasselbe sind . Das eine ist möglicherweise eine Funktion des anderen, doch die Funktion ist zu komplex, als dass sie mathematisch erfasst werden könnte. Stellenweise tritt in dieser Relation Optionalität auf – ein Umstand, den diese sprachlos cleveren Leute instinktiv erfassten. 48
    Wie Fat Tony reich (und fett) wurde
    Die Phase, in der Fat Tony zu Fat Tony (im »engeren« Sinn) wurde, also an finanziellem und körperlichem Umfang zunahm, war die Zeit während und nach dem Kuwaitkrieg (die Abfolge war die übliche: erst reich, dann fett). Im Januar 1991 griffen die Vereinigten Staaten Bagdad an, um das vom Irak besetzte Kuwait zu befreien. Jeder intelligente Mensch aus dem sozio-ökonomischen Sektor hatte seine Theorien, Wahrscheinlichkeiten, Szenarien – die ganze Palette. Jeder, außer Fat Tony. Er wusste nicht einmal, wo der Irak lag, ob er eine Provinz von Marokko war oder irgendein Emirat mit scharf gewürzten Speisen östlich von Pakistan – er kannte das Essen nicht, also existierte der Ort für ihn nicht.
    Alles,

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